Süddeutsche Zeitung

Protest der Pandemie-Leugner in München:Naivität, die sich bitter rächen kann

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3700 Menschen gehen in München auf die Straße - unter ihnen radikale Impfgegner und Verschwörungsgläubige. Ein beschämendes Schauspiel. Polizei und Stadt dürfen sie nicht einfach gewähren lassen - und Demonstranten aus dem bürgerlichen Lager müssen sich distanzieren.

Kommentar von Martin Bernstein

Es war ein Desaster mit Ansage. Dass zumindest der harte Kern der Impfgegner, Pandemieverharmloser und Verschwörungsgläubigen sich nicht an die Auflagen für ihre Kundgebung halten und ohne Masken unangemeldet durch die Stadt ziehen würde, hatten sie schon im Vorfeld deutlich gemacht und auf der Kundgebung selbst wiederholt angekündigt. Alle wussten das. Nur die Münchner Polizei und die Stadt scheinbar nicht. Die Folge war ein beschämendes Schauspiel in der nächtlichen Münchner Innenstadt, mehr Hase und Igel denn Katz und Maus.

Aber wie das so ist, wenn etwas gründlich daneben geht - man kann aus einem Debakel auch lernen. In diesem Fall: Der Szene darf man nicht mit Naivität begegnen. Das gilt übrigens nicht nur für Polizei und Auflagenbehörde. Das gilt auch für fassungslose Beobachter der Vorgänge. Was in München und nahezu täglich an vielen Orten passiert, ist nicht der Protest besorgter Bürger.

Den Wortführern geht es um etwas anderes als die mögliche, aber längst noch nicht demokratisch beschlossene Impfpflicht oder gar einen fiktiven "Impfzwang", den niemand, der auch nur halbwegs bei Trost ist, ernsthaft in Erwägung zieht. Ihnen geht es, wieder und wieder, darum, diesen Staat und seine Repräsentanten zu delegitimieren. Auch das wird in den Foren der Veranstalter und wurde am Mittwoch von der Bühne herab offen formuliert.

Womit wir bei den anderen wären, der eigentlichen Mehrheit in der Minderheit, wie viele Demonstranten behaupten. Denjenigen, die nach eigenem Bekunden lediglich eine Impfpflicht für sich und ihre Kinder ablehnen. Wenn sie so viele sind, wie sie sagen: Warum haben dann neben, vor und mitten unter ihnen Demokratieverächter und Menschenfeinde so leichtes Spiel?

Einer machtvollen "Bürgerrechtsbewegung, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat", sollte es doch ein Leichtes sein, für die Bürger- und Menschenrechte wahrer Minderheiten einzutreten. Und nicht zu jubeln, wenn dem Schulterschluss mit Rechten das Wort geredet wird.

Nicht wegzuschauen, wenn der Mann, die Frau nebenan unsägliche Shoah-Vergleiche anstellt. Zu widersprechen, wenn in Internet-Gruppen Politikern das Menschsein abgesprochen wird. Und wegzugehen, wenn sie sehen, wie offen Verschwörungsideologen und Rechtsextremisten auf Kundgebungen auftreten.

Mag sein, dass ein Teil der Demonstranten derzeit noch aus dem bürgerlichen Lager kommt und eigentlich nur am "braven Protest" und nicht am Geschwätz vom "Widerstand" interessiert ist. Warum überlassen die aber das Feld so bereitwillig den anderen und organisieren nicht - frühere Protestbewegungen haben das eindrucksvoll gezeigt - selbst Aktionen, in denen ihre Sorgen tatsächlich zum Ausdruck kommen? Wenn Naivität der Grund ist, kann die sich noch bitter rächen.

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