Süddeutsche Zeitung

Comic und Zeitgeschehen:Die Wahrheit übers Wegschauen

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Im Comicband "Bruchlinien" haben Anne König und Nino Paula Bulling drei Episoden rund um die NSU-Morde aufgearbeitet - in einem digitalen Gespräch mit der Münchner Zeichnerin Barbara Yelin erzählen sie von der Entwicklung des komplexen Projekts

Von Antje Weber

Es fängt dunkel an. Das erste Bild des Comics "Bruchlinien" ist nur ein schwarzes Rechteck; auf den nächsten Bildern kommen Sprechblasen mit Geräuschen und Gesprächen dazu. Es dauert etliche Zeichnungen und Seiten, bis der Betrachter versteht: Hier wird die Welt einer blinden Frau gezeigt. Doch diese Frau ist nicht nur physisch blind, sie will offensichtlich auch im übertragenen Sinne nicht wahrhaben, wer sie in ihrem Zwickauer Alltag unterstützt: Susann Eminger, die mit ihrem Mann André auffallend gute Kontakte zum rechtsextremen Terror-Trio Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt pflegte.

Es gibt viele blinde Flecken im Zusammenhang mit den zehn NSU-Morden, die das Trio in den Jahren 2000 bis 2007 verübte; auch nach dem jahrelangen NSU-Prozess in München. "Wie funktioniert das Wegschauen?", das war eine der Fragen, die Anne König, Autorin und Verlegerin von Spector Books Leipzig, und die Berliner Zeichnerin Nino Paula Bulling antrieb: Zusammen haben sie in einem komplexen Projekt den Comic "Bruchlinien. Drei Episoden zum NSU" erarbeitet. Und zusammen haben sie nun der Münchner Zeichnerin Barbara Yelin darüber Auskunft gegeben, in der ersten digitalen Ausgabe der Reihe "Comic Bar". Seit einigen Tagen kann man sich von ihnen auf dem Youtube-Kanal der Münchner Stadtbibliothek eine Dreiviertelstunde lang ins Thema einführen und einzelne Kapitel aus dem Comic zeigen und vorlesen lassen.

Das ist als Annäherung an diesen hochpolitischen und hochinteressanten, auf den ersten Blick aber auch ein bisschen sperrig wirkenden Band sehr aufschlussreich. König und Bulling haben drei Episoden aus weiblicher Sicht rekonstruiert. Nach einer teils minutiösen Recherche, die mit Interviews in der zweiten Hälfte des Bandes dokumentiert ist, hätten sie die Fakten durch manches Spekulative ergänzt, so Bulling - um Bilder zu finden für Geschehnisse, von denen es keine Bilder gibt; wie zum Beispiel bei den Alltagsszenen um Susann Eminger, die mit der blinden Bekannten zu einem Arzt fährt und anschließend ihre Freundin Beate Zschäpe trifft. In einer Art Maskenspiel erzählt die zweite Episode von einer Verwaltungsbeamtin in Daun, die erfolglos versuchte, das Schreddern von Akten zu verhindern. Und eine dritte Episode aus Dortmund - durch die Zusammenarbeit mit Gamze Kubaşık, Tochter des Mordopfers Mehmet Kubaşık, dokumentarisch besonders gut abgesichert - zeichnet den mühevollen Weg der Hinterbliebenen nach.

Diese Episode ist besonders erschütternd zu lesen. Denn hier wird einmal mehr deutlich, was die Familien der Opfer durchgemacht haben: Die ermordeten Väter und Ehemänner wurden aufgrund ihres Migrationshintergrunds zunächst als Drogendealer verunglimpft, die Angehörigen wurden tendenziös von der Polizei befragt, und noch während des NSU-Prozesses mussten sie sich offensichtlich Bemerkungen anhören, die sich nicht nur als herablassend, sondern als rassistisch einordnen lassen. Ein "fatales Zeichen", so König, habe auch die schriftliche Urteilsbegründung in diesem April gesetzt: Wieder gebe es, auf mehr als 3000 Seiten, keinen Raum für die Opfer und Hinterbliebenen.

All dies, so formuliert es die Kasseler Kunstvermittlerin und Autorin Ayşe Güleç in einem der Interviews im Buch, habe mit "einem selektiven Hören der Mehrheitsgesellschaft" zu tun: "Das Nicht-Wahrnehmen-Wollen, das Nicht-Hören-Wollen sind aktive Handlungen, die als strukturelle Ignoranz oder strukturelle Empathielosigkeit Teil von Rassismus sind." Das ist, leider, von hochaktueller Brisanz; dass es einen solchen Comicband gibt, ist immerhin ein heller Sprenkel in der Düsternis.

Anne König/Nino Paula Bulling: Bruchlinien , Spector Books 2019, 96 S., 24 Euro; "Comic Bar"-Gespräch : Youtube-Kanal der Münchner Stadtbibliothek oder blog.muenchner-stadtbibliothek.de

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SZ vom 11.07.2020
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