Süddeutsche Zeitung

Ausstellung:Ernüchternde Erkenntnisse

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Eine Ausstellung im Augsburger Textil- und Industriemuseum beleuchtet das Solidaritätsprinzip aus unterschiedlichen Blickwinkeln.

Von Sabine Reithmaier, Augsburg

Über einen großen Bildschirm am Eingang der Ausstellung flimmern Nachrichtenfetzen. Ihre Gemeinsamkeit: Politiker und andere wichtige Menschen fordern darin Solidarität. Freilich haben Angela Merkel, Donald Trump, der Papst, Münchens Kardinal Reinhard Marx und andere ganz unterschiedliche Gründe für ihre Appelle. Aber eines wird deutlich: Solidarität ist ein Begriff, der in Reden derzeit ständig, wenn auch in wechselnden Kontexten auftaucht. Ob der Besucher freilich "Who cares?", so der Titel der Schau im Augsburger Textil- und Industriemuseum (tim), lieber mit "Wer kümmert sich?" oder mit "Wen kümmert's?" übersetzen soll, bleibt offen. Obwohl die sehenswerte Ausstellung jede Menge klare Antworten und noch mehr ernüchternde Fakten liefert.

Für Museumsleiter Karl Borromäus Murr ist Solidarität kein Almosen, kein Akt der Barmherzigkeit, sondern "Unterstützung auf Augenhöhe - eine Unterstützung, die aufgrund des menschlichen Gleichheitsgrundsatzes dem Schwächeren zu seinem Anrecht verhilft, selbst wenn der Helfende Nachteile dafür in Kauf nehmen muss". Da die Corona-Pandemie in allen Lebensbereichen vieles auf den Kopf gestellt hat, fand er es an der Zeit, in Kooperation mit der Uni Augsburg das Solidaritätsprinzip aus vielen Blickwinkeln zu beleuchten. Auch aus der historischen Perspektive der Arbeiterbewegung im 19. und 20. Jahrhundert, in der der Begriff eine wesentliche Rolle spielte. Nicht nur im Solidaritätslied von Bert Brecht, mit dem der Film "Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?" (1932) endet. Die Gewerkschaften kämpften zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahrzehnten für bessere Arbeitsbedingungen und den gemeinsamen Widerstand gegenüber den Zumutungen der Industrialisierung, notfalls auch mithilfe von Streiks.

Gläserne Gewächshäuser

Das Ringen um Solidarität ist eine zentrale Herausforderung der Gegenwart geblieben, egal ob es sich um Klima, Flucht, Konsum, Gesundheit oder Kunst und Kultur handelt. Dass alles mit allem zusammenhängt, macht die Einrichtung der Ausstellung unmissverständlich klar. Gläserne Gewächshäuser, durch die der Besucher wandert, sorgen für die notwendige Transparenz, lassen es nicht zu, ein Thema ohne das andere zu betrachten.

In einem der fragilen Häuschen baumeln Infusionsschläuche und Blutkonserven - ein ebenso einfaches wie überzeugendes Beispiel für solidarisches Handeln im Gesundheitsbereich. In einem anderen Glashaus kreuzen sich Leuchtschriften mit Schlagzeilen der letzten Monate, erzählen von Infektionszahlen, Corona-Toten und aktuellen Börsenkursen. Ernüchternd das Erstausstattungsset auf dem Notbett, das Flüchtlinge empfängt, beeindruckend Erkan Özgens Film "Wonderland" (2016). Der türkische Künstler lässt Muhammad, einen taubstummen Buben aus einem syrischen Dorf nah der türkischen Grenze, mit Gebärden von seiner Flucht und den miterlebten Morden erzählen. Dazu die nüchterne Information, dass 250 bis 300 Millionen Menschen im 20. Jahrhundert vor Gewalt, Unfreiheit und Hunger geflohen sind.

In einem Umwelt-Glashaus erinnern tickende Uhren an die sich anbahnende Klimakatastrophe, rufen verkohlte Bäume Brandrodungen ins Gedächtnis. Die Ausstellung hat auch viele interaktive Inseln. Wer möchte, kann den Einbürgerungstest machen, aber auch überlegen, in welche der 16 Boxen er sein Spielgeld spenden möchte. Der Not- und Katastrophenhilfe, dem Sportverein oder doch lieber dem Lieblingsladen? Wer Lust hat, kann sich auch sein eigenes Demonstrationsplakat malen. Oder angesichts der Feststellung, 40 Prozent der Kleidung in den Kleiderschränken würde nur selten oder gar nicht getragen, ins Grübeln über das eigene Konsumverhalten geraten. Und dazu Texte über Baumwollanbau, Lieferketten oder die negativen Folgen für Arbeiter in den Textilfabriken studieren. Von Solidarität ist da wenig zu spüren.

Was Kunst und Kultur betrifft, so hat das Museum Raum für ein ästhetisches Experiment geschaffen. Unter der Federführung von Utopia Toolbox, einem internationalen Kunstkollektiv, wird solidarisches Handeln gemeinsam mit den Besuchern erlebbar gemacht.

Die Schau endet vor einem leeren Glashaus. Die Besucher beantworten hier mittels Filzstift auf den Glasscheiben die Frage, wo sie sich in ihrem Leben solidarisch verhalten. "Ich höre anderen zu", hat einer geschrieben. Kein schlechter Anfang.

Who cares? Solidarität neu entdecken. Sonderausstellung bis 23. Januar, Staatliches Textil- und Industriemuseum Augsburg

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