Süddeutsche Zeitung

Krieg gegen Russland:Der militärische Druck der Ukraine wächst

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Wolodimir Selenskij spricht davon, bald Gelände zurückzuerobern. Ist die Ukraine bereit zum Gegenschlag? Aus eigener Kraft wohl kaum - genau das ist das Kalkül des Präsidenten.

Kommentar von Cathrin Kahlweit

Seit Tagen erreichen die Ukraine Nachrichten westlicher Geheimdienste, die einigermaßen ermutigend klingen - wenn von Ermutigung in diesem barbarischen Krieg überhaupt gesprochen werden kann. Prognostiziert wird, dass die russische Armee bald eine "Einsatzpause" einlegen müsse, dass ihr "die Puste ausgehen" werde, dass ihr Soldaten und Material fehlten - und dass Putin seine Kriegsziele auf absehbare Zeit nicht erreichen werde. Diese - zugegeben unsicheren - Vorhersagen aus London und Washington mischen sich mit Erfolgsmeldungen aus Kiew, nach denen vor allem die jüngsten Lieferungen schwerer Waffen, etwa amerikanischer Raketenwerfer, es den ukrainischen Verteidigern ermöglich hätten, den Russen schwere Verluste zuzufügen.

Was sich bisher nicht bewahrheitet hat, sind die Ankündigungen des ukrainischen Präsidenten, dass seine Truppen strategische Geländegewinne erreichen und besetztes Gebiet im Süden rund um Cherson und die Region Saporischschja befreien würden. Dabei wären gerade dort, wo das Terrorregime der russischen Besatzer zu Folter, Massendeportationen und Zwangsrussifizierung führt, militärische Erfolge jetzt besonders wichtig.

Weit mehr als eine Million Menschen wurden bereits nach Russland verschleppt, die russische Führung spricht von "Evakuierten" und bestätigt damit ein Verbrechen, das erstaunlich wenig Widerhall bei all jenen findet, die immer noch meinen, man müsse mit Wladimir Putin verhandeln, die Ukrainer müssten Gebiete abgeben, Kompromisse schließen. Neben der Vertreibung nach Westen haben die Deportationen nach Osten das größte menschliche Leid in diesem Krieg angerichtet. Die besetzten Gebiete werden, wie weggesperrt von der Welt, von Moskau zwangsverwaltet; in Russland kümmert niemanden das Schicksal der Opfer in Mariupol, Melitopol oder Nowa Kachowka. Die Verschleppten werden von der russischen Propaganda teils ausgestellt wie Vieh: Seht her, wen wir hier vor den Faschisten gerettet haben.

Jeder Quadratkilometer, den die ukrainischen Truppen zurückholen könnten, wäre auch deshalb lebenswichtig. Aber abgesehen von kleineren Geländegewinnen hat sich in den vergangenen Wochen wenig bewegt. Wenn nun Wolodimir Selenenskij erneut betont, die ukrainische Armee habe das Potenzial, Territorium zurückzuerobern und die Besatzer zurückzuschlagen, dann lässt sich das sicherlich zum einen unter Trost und Motivation verbuchen; der Krieg dauert schon fünf Monate, die emotionale Belastung ist schwer erträglich. Den zweiten Grund nannte Selenskij in seinem jüngsten Appell, der sich ebenso an seine Landsleute wie an die westlichen Partner richtete, erneut selbst: Jede Bombe auf ukrainische Städte sei ein "Argument für mehr, modernere und effektivere" Waffen. Und es stimmt ja auch: Die jüngst gelieferte, hochmoderne Artillerie hat die russische Armee entlang, vor allem aber hinter der Front schwer unter Druck gesetzt; sie hat Gegenschläge ermöglicht und Hoffnung geweckt.

Russlands Außenminister Sergej Lawrow hat jetzt verkündet, die Kriegsziele des Kreml umfassten nicht mehr nur die "Volksrepubliken", sondern auch die Region um Cherson und Saporischschja. Das sei nötig, weil der Westen der Regierung in Kiew nun Waffen mit immer größerer Reichweite liefere. Lawrow lügt, wenn er von "neuen" Zielen spricht. Aber seine Äußerungen zeigen, dass der Druck der ukrainischen Armee wieder wächst.

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