Süddeutsche Zeitung

Aktuelles Lexikon:Der kranke Mann Europas

Zweifelhafte Würdigung, die Deutschland derzeit in die Tradition des Osmanischen Reiches stellt.

Von Joachim Käppner

Auf hübschen alten Karikaturen wie der "Lebenspyramide" steht ganz oben ein würdiger Herr auf der Höhe seiner Kraft: "40 Jahr, wohlgethan". Danach geht es abwärts, auf der letzten Stufe droht der Greis mit dem Krückstock schwächlich den Gassenjungen, die ihn verspotten. Ähnlich muss man sich das Schicksal einst großer Mächte im Abstieg vorstellen, die dann gern als der kranke Mann Europas oder anderer Kontinente bezeichnet werden. Derzeit widerfährt Deutschland diese zweifelhafte Würdigung. Als klassischer kranker Mann Europas galt im 19. Jahrhundert das Osmanische Reich; bis zur Niederlage vor Wien 1683 in der christlichen Welt gefürchtet; zerfiel das weit überdehnte Imperium später zusehends, Russland, Frankreich, Großbritannien, die Habsburger und andere teilten sich die Torte der verlorenen Provinzen. In den 1970er-Jahren waren es die Briten, die durch eine Wirtschaftskrise und nach dem Verlust des Empire als kranker Mann Europas galten. Heute stehen ökonomische Krisen im Vordergrund, wenn ein Land diesen Beinamen angehängt bekommt wie vor einigen Jahren Griechenland. Ein Trost für das Wirtschaftswunderland a. D. Deutschland mag sein, dass Ökonomen bereits auch die USA, die EU und China als kranken Mann bezeichneten, und zwar der Weltwirtschaft.

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