Süddeutsche Zeitung

EU-China-Gipfel:Die EU pflegt ein zu wohlwollendes Bild von China

Lesezeit: 3 min

Europa glaubt an die Kraft von Vernunft und Verträgen. Aber es hat sich längst ein gefährliches Gefälle zwischen Peking und Brüssel ergeben.

Kommentar von Stefan Kornelius

Chinas Führung mag sich geheimniskrämerisch geben, aber weder Staat noch Partei behandeln ihre Ambitionen als Verschlusssache. Im Gegenteil. Wer die politischen Linien der KP erkennen will, muss nur ihre Strategiepapiere, Fünf-Jahres-Pläne, Losungen und Proklamationen lesen. Sie spiegeln in bemerkenswerter Offenheit, welche Lehren Chinas Führung aus den Trends der Geopolitik zieht, und wie sie diese Trends zugunsten des eigenen Landes und ihres Machterhalts umzusetzen gedenkt.

Staats- und Parteichef Xi Jinping hat den Maßstab vorgegeben, wenn er den Vorteil des Einparteiensystems darin erkennt, "große Dinge zu tun". Das beginnt aus Sicht der KP mit der historischen Erfahrung von Demütigung und Unterwerfung (die sich nie wiederholen darf) und endet bei Xi selbst, dessen Größe in absehbarer Zeit nicht zu überbieten sein wird.

China hat eine strategische Mission entwickelt, die - so schreiben es die außenpolitischen Berater des US-Präsidentschaftskandidaten Joe Biden - zur "größten ideologischen Herausforderung seit Sowjet-Zeiten" geraten wird. Das sind keine angstmacherischen Phrasen. Vielmehr stecken hinter Chinas neuer Linie knallharte Interessen in Sachen Marktdominanz, Einflusssphären, technologischer Überlegenheit und Unangreifbarkeit.

Hingegen ist es mit der ideologischen Geschlossenheit der Europäischen Union so eine Sache. Ihr Bewusstsein für Größe und Unangreifbarkeit steht umgekehrt proportional zu ihrer Marktmacht. Europas Selbstbewusstsein ergibt sich eben nicht aus der Addition von 27 nationalen Egos. Auch wenn die 27 neuerdings einhellig "strategischer Rivale" murmeln: Die EU pflegt ein falsches, möglicherweise naives und ganz bestimmt zu wohlwollendes Bild von China. Längst hat sich daraus ein gefährliches Gefälle zwischen Peking und Brüssel ergeben.

Autarkie und Dominanz sind Zielvorgaben

Chinas Blick auf die Welt wendet sich zunächst nach Osten. Erst wenn die zentrale Auseinandersetzung mit den USA vermessen ist, ergeben sich die Spielregeln für die EU. Und auch hier geht es aus Sicht Pekings nur um die Ableitung des Oberthemas: Stärke, Stärke, Stärke. Das ist per se nicht verwerflich, allerdings sind Chinas Vorstellungen von nationaler Souveränität und wachsender ökonomischer und technologischer Unabhängigkeit immer weniger zu vereinbaren mit den marktwirtschaftlichen Ideen und natürlich auch den menschenrechtlichen Grundsätzen, die etwa die EU in einer globalisierten Welt anzuwenden gedenkt.

Diese globalisierte Welt ist nach chinesischer Analyse bald schon eine Sache der Vergangenheit. Die nationalen Programme wie "Chinesische Standards 2035", "Made in China 2025", "Strategie zweier Kreisläufe" und der bald zu verabschiedende Fünf-Jahres-Plan zeugen allesamt von einem China, das sich aus der globalen Integration herauszieht und auf nationale Stärke setzt. Das ist bei einem Land dieser Größe eine echte Kampfansage an Daimler, BASF, Apple oder jedwedes Institut der westlichen Finanzwirtschaft - aber eben auch an demokratisch geprägte Marktwirtschaften.

Gepaart mit der neuen ideologischen und politischen Härte (wieder eine Säuberungswelle, Unterdrückung in Xinjiang, Nationales Sicherheitsgesetz Hongkong, Aufhebung des Dogmas vom einen Land und den zwei Systemen) entwickelt sich da ein Problem, das in einer Videoschaltung zwischen der Spitze der EU und Peking nicht gelöst werden kann.

Die Bundesregierung war und ist der Meinung, dass sie mithilfe eines Investitionsabkommens und einer diplomatischen Offensive einen neuen Umgang mit Peking finden könnte. Während die USA zwischen radikaler Entflechtung (Trump und sein Außenminister Pompeo) und ökonomischem Football mit ideologischen Scheuklappen (Biden) schwanken, glaubt die EU also an die Kraft von Verträgen und die Vernunft. Das ist gut gemeint, zumal China ein Interesse hat, die EU aus dem aufgewühlten Kielwasser der USA herauszuhalten. Doch ist es realistisch?

Für eine Antwort reicht ein Blick auf die wichtigsten Grundsätze, die jede offizielle Proklamation in China begleiten: ein Land, eine Partei, unter einer Führung. Staatsideologie und Wirtschaftsprogrammatik sind so eng verknüpft wie seit Mao nicht mehr. Autarkie und Dominanz sind Zielvorgaben, die jeder Mittelständler mit einem Partnerunternehmen in Henan in Euro- und Cent-Verlust spüren wird. China kopiert das deutsche Exportmodell und hat sich zum Ziel gesetzt, die Abhängigkeiten vom Ausland zu beenden.

Bei diesen Vorgaben ist es schwer, an eine klassische Verhandlungslösung zu glauben. Die Gespräche haben momentan vor allem ein taktisches Ziel: Eine transatlantische Front will Peking um jeden Preis verhindern. Wie für so vieles, was in der internationalen Politik derzeit drängt, gilt deshalb: Die EU wird ihr Verhältnis zu China erst nach dem 3. November klären können, wenn der nächste US-Präsident gewählt ist.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5031024
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 15.09.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.