Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Ein Bußgeldbescheid ist keine Bagatelle für einen Premier

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Warum es nicht unverhältnismäßig ist, Boris Johnsons Rücktritt zu fordern - nachdem er einen Strafzettel für das Brechen von Corona-Regeln bekommen hat.

Kommentar von Michael Neudecker

Fragt man Menschen, die mit Boris Johnson zusammengearbeitet haben, hört man oft: Johnson sei ein Chef, der es hasst, den Leuten vorzuschreiben, was sie tun sollen. Seinem Team in einem gewissen Rahmen freie Bewegung zu lassen, das kann eine wertvolle Stärke einer Führungskraft sein - solange der Chef den Rahmen festhält. Andernfalls wird die Stärke zur Schwäche. Zum Beispiel dann, wenn der Chef der Premierminister ist, an seinem Regierungssitz gesetzeswidrige Veranstaltungen stattfinden und der Chef sich lieber dazusetzt, statt die Leute nach Hause zu schicken.

Die Bußgeldbescheide, die Boris Johnson und der britische Finanzminister Rishi Sunak für das Besuchen von Johnsons Geburtstagsparty während des Lockdowns im Juni 2020 erhalten haben, sind die ersten ernst zu nehmenden Folgen der quälend langen Partygate-Saga. Und nicht die letzten, wie die Polizei bereits ankündigte. Alle Oppositionsparteien, die Regierungschefs von Schottland und Wales sowie - laut Blitzumfragen von drei Instituten - 57 bis 61 Prozent der Briten verlangen den sofortigen Rücktritt von Johnson. Die Verteidiger, darunter viele Minister, argumentieren, erstens, das alles sei völlig unverhältnismäßig. Zweitens, man könne während eines Krieges nicht den Premierminister wechseln, und drittens, Johnson sei der Mann für die "big calls". Das Land brauche ihn.

In der Tat hat Johnson gerade während des Krieges auch richtige Entscheidungen getroffen. Die Zusage von Waffenlieferungen an die Ukraine erfolgte bereits zu einer Zeit, als in Deutschland noch um den Umgang mit Russland gerungen wurde. Zu behaupten, andere Spitzenpolitiker wie Verteidigungsminister Ben Wallace hätten nicht genauso entschieden - das jedoch verklärt Johnsons Bedeutung. In der Bewertung seiner Corona-Politik, die auch dank eines hervorragenden Impfprogramms derzeit ein freies Leben ermöglicht, wird gerne etwas verdrängt: Während des anfänglichen Zögerns der Regierung starben so viele Menschen, dass die Krankenhäusern nicht mehr wussten wohin mit den Leichen.

Man rufe sich in Erinnerung, wozu die Innenministerin ermunterte

Zwei Drittel der Briten glauben laut jener Blitzumfragen, Johnson habe im Parlament gelogen, als er sagte, es seien keine Regeln gebrochen worden. Ist ein Krieg in der Ukraine also tatsächlich ein Argument gegen die Ablösung eines Premiers - oder bräuchte es gerade nicht jetzt einen Regierungschef, dem das Volk vertraut? Die Briten tauschten während beider Weltkriege ihre Premierminister aus, mit bekanntem Erfolg.

Und was das Vergehen selbst betrifft: Während des Lockdowns verzichteten viele Briten auf jegliches Anstoßen und Umarmen, und sei es auch noch so kurz. Weil sie von der Regierung permanent dazu aufgefordert wurden, insbesondere von Johnson selbst. Die Innenministerin Priti Patel rief sogar dazu auf, die Polizei zu verständigen, sollte man einen Regelverstoß beobachten.

Der Premierminister ist nicht ein paar Meilen zu schnell gefahren, sondern hat Regeln gebrochen, die er selbst aufgestellt hat, um die Menschen in einer Pandemie zu schützen. Im Argument, die Party-Sache sei eine Bagatelle, liegt eine nicht zu unterschätzende Gefahr: Wenn es eine Ermessensfrage ist, wie sehr ein Premier das Gesetz brechen darf, ehe der Verstoß Konsequenzen hat, dann ist der Weg zur Willkür nicht mehr weit.

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