Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Der Premier schläft gut

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Großbritannien braucht einen Krisenmanager - hat aber nur Boris Johnson. Die Nachwahl in einer alten Tory-Hochburg zeigt: Dieser Missstand fällt inzwischen vielen Briten auf.

Kommentar von Michael Neudecker

Es gibt diverse Zahlen und Fakten, die nun die Heftigkeit der Niederlage für Boris Johnson in einem Wahlkreis illustrieren sollen, von dem selbst viele Briten bisher nichts bis gar nichts gehört haben. Die Konservativen verloren am Donnerstag in North Shropshire, einem Pro-Brexit-Wahlkreis, der seit fast 200 Jahren fest in Tory-Hand war. Boris Johnson stand dort nicht zur Wahl, sondern ein gewisser Neil Shastri-Hurst. Dass der aber wohl nichts für seine Niederlage kann, zeigt einer dieser Fakten, den man ruhig Fun Fact nennen kann: Helen Morgan, die siegreiche Liberaldemokratin, darf jetzt als Abgeordnete den Wahlkreis im britischen Parlament in Westminster repräsentieren, aber sie schaffte es bei der Lokalwahl im Mai nicht, einen der 74 Sitze im Council von Shropshire zu ergattern.

Die Menschen in Shropshire haben Helen Morgan gewählt, aber vielen ging es vor allem darum, die Tories nicht zu wählen, wie auch die niedrige Wahlbeteiligung zeigt. Dafür gibt es gleich mehrere Gründe.

Die Bauern sind sauer. Wegen der Sandwich-Sache

Shropshire ist ein landwirtschaftlich geprägtes Gebiet, und die Bauern sind sauer auf Johnson, spätestens seit der Sandwich-Sache: Vor ein paar Monaten beklagten sie, viele Schweine umbringen zu müssen, weil sie sich deren Haltung nicht mehr leisten könnten. Johnson sagte salopp, die Tiere würden doch ohnehin sterben, um zum leckeren Sandwich zu werden. Der Premier versteht uns nicht, sagten damals die Bauern. Da schon hätte Johnson merken können, dass etwas in die falsche Richtung läuft. Aber er hat schon oft gezeigt, dass Selbstreflexion nicht zu seinen Stärken gehört.

Die Nachwahl nun wurde nötig, weil der Abgeordnete Owen Paterson Anfang November zurücktreten musste. Paterson, immerhin seit 1997 siebenmal gewählt, war der Auslöser für einen Korruptionsskandal, in dem es um Nebenjobs von Abgeordneten ging. Johnson hatte Paterson verteidigt, sogar versucht, die Regeln zu dessen Gunsten zu verändern. Hinzu kommen nun die Enthüllungen über Partys in Downing Street zur Lockdown-Zeit, die kein Ende nehmen. Und, nicht zuletzt, Johnsons Umgang mit der Pandemie.

Die Pandemie legt viele neue Schwächen offen

Gerade in einer Pandemie sind Regierungschefs auch Krisenmanager, und Boris Johnson macht einen überforderten Eindruck in dieser Rolle. Ein Kenner formulierte vor ein paar Tagen treffend: Theresa May hätte seit Beginn der Pandemie nicht mehr geschlafen, um die Lage in den Griff zu kriegen, aber um Boris Johnsons Schlaf müsse man sich keine Sorgen machen.

Zu Beginn dieses Jahres verdeckte die alles überrollende Pandemie die Schwächen Johnsons, inzwischen legt sie manche überhaupt erst offen. Dass er dabei auch noch fortwährend Zahlen verdreht und Fakten verbiegt, um auf angebliche Erfolge im Kampf gegen das Coronavirus zu verweisen, während das Land in Wahrheit sehenden Auges auf einen weiteren Lockdown zusteuert, überrascht kaum. Sein Verhältnis zur Wahrheit ist bekanntermaßen speziell, besonders, wenn er unter Druck gerät.

Gespür, Integrität, Souveränität, Verlässlichkeit, das sind Werte, die es braucht, um ein Land führen zu können. Boris Johnson zeigt seit Wochen, wenn nicht Monaten, dass ihm all das fehlt. Womöglich ist das nun auch einigen Tory-Wählern außerhalb von North Shropshire klar geworden.

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