Süddeutsche Zeitung

Laufzeitverlängerungen:Es wird wehtun

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Eigentlich wäre die Atomkraft kein Thema mehr. Aber weil die Energiekrise immer schrecklichere Szenarien möglich erscheinen lässt, rütteln Union und FDP am Nein. Die Grünen werden das nicht mitmachen - und noch manche Polemik ertragen müssen.

Kommentar von Stefan Braun

Natürlich, man könnte es mit einem Gähnen zur Kenntnis nehmen und dann beiseitelegen. Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke? Markus Söder fordert das? Friedrich Merz verlangt es? Und dazu FDP-Fraktionschef Christian Dürr? Klingt wie ein alter Hut, den keiner mehr braucht. So jedenfalls wirkt das auf alle, die sich daran erinnern, wie schwer es vielen in der Union und in der FDP fiel, als Angela Merkel, Guido Westerwelle und Horst Seehofer im Frühjahr 2011 den Atomausstieg beschlossen, nachdem sie im Herbst 2010 noch eine Laufzeitverlängerung durchgedrückt hatten. Natürlich schmerzte das abrupte Ende viele, vor allem bei den Konservativen. Die Wunden heilten nie richtig. Und doch klingt die aktuelle Debatte so, als gehe es vor allem um Schmerzen aus vergangenen Zeiten.

Andererseits stehen Europa und Deutschland spätestens im Herbst vor einer energiepolitischen Notlage, die in der Geschichte der Republik und des Kontinents beispiellos werden könnte. Das sagt nicht etwa einer der oben genannten. Es sind Vokabeln von Krise, Ernstfall und Apokalypse, die aus der Bundesregierung stammen. Vom Kanzler rhetorisch etwas weicher gebettet; von Vizekanzler und Energieminister Robert Habeck aber umso deutlicher. Am Montag erklärte er, sollte es kommen wie befürchtet, dann müssten im Herbst auch private Haushalte ihren Teil zur Lastenteilung beitragen. Habeck macht das nicht, um spektakuläre Schlagzeilen einzuheimsen. Der Grünen-Politiker mahnt die Menschen, um sie auf schwere Zeiten vorzubereiten. Das ist kein politisches Spiel, es ist ihm so ernst, wie es ernster nicht sein könnte.

Der pragmatische Realismus ist Habecks größter Trumpf

Politisch belegt hat er das früh. Auch und gerade im eigenen Handeln. Seine Reise nach Katar, um ausgerechnet von dort Gas zu bekommen, war alles andere als ein Vergnügen; und seine Entscheidung, in der Not wieder mehr Kohle zu verstromen, provoziert gerade im Umfeld der Grünen und der Fridays-for-Future-Bewegung einen Zorn, den er sich gerne erspart hätte. Bislang freilich schadet ihm das wenig. Im Gegenteil ist sein im Amt vorgelebter pragmatischer Realismus sein größter Trumpf geworden. Kein Sprechblasenproduzent, sondern einer, der Schwierigstes abwägt, mit allem ringt und dann entscheidet. Das ist der Grund, warum er bei vielen Menschen beliebt ist.

Und an dieser Stelle kommt die Atom-Debatte ins Spiel. Exakt hier wollen Union und Liberale seinen Pragmatismus herausfordern. Und zwar mit der vermeintlich einfachen Frage, warum er in dieser Krise zwar das Klima mit neuem Kohlestrom bedrohe, aber nicht bereit sei, für ein paar Monate die klimaneutralen AKWs weiterlaufen zu lassen. Für jeden, der nicht ganz genau hinsieht, klingt das plausibel. Zumal, wenn in diesem Sommer die Hitze (und damit die Klimakrise) zuschlägt und im Herbst ein Energie-Engpass womöglich schwerste Verwerfungen auslöst. Da will der Minister nicht mal für ein paar Monate "über seinen Schatten" springen?

Union und FDP wissen, an welchem Schmerzpunkt der Grünen sie rühren. Und sie ahnen, dass sie in einem vielleicht bitterheißen Herbst damit noch viele Anti-Habeck-Emotionen auslösen könnten. Eines aber wissen sie auch und ignorieren es tunlichst: dass die nötigen Sicherheitsüberprüfungen fehlen und in ein paar Monaten auch nicht nachgeholt werden können. Die verbliebenen drei Atomkraftwerke müssten also vom ersten Tag der Verlängerung an ohne Sicherheitsüberprüfung laufen. Dass Habeck das ablehnt, spricht nicht gegen ihn, sondern gegen all jene, die das mal eben so außer Acht lassen.

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