Süddeutsche Zeitung

9. November:Tag des Nachdenkens

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Dieses Datum steht für sehr unterschiedliche Ereignisse der jüngeren Geschichte. Als Feiertag aber eignet er sich nicht.

Kommentar von Kurt Kister

Frank-Walter Steinmeier ist 1956 geboren. Er gehört zu jener Generation, aus deren Reihen viele mit den Eltern und Großeltern stritten, weil ihnen die Ungeheuerlichkeit der Nazi-Verbrechen bewusst wurde, sie aber gleichzeitig erlebten, wie gering in der damaligen Bundesrepublik die Bereitschaft der Älteren war, sich dem zu stellen. Seit Richard von Weizsäcker hat es keinen Bundespräsidenten mehr gegeben, der sich so wie Steinmeier im Amt mit dem Fortwirken der Vergangenheit, gerade der Nazi-Vergangenheit, in die Gegenwart beschäftigt hat. Zwar hat dies auch Joachim Gauck getan, aber aus einer anderen Perspektive und mit einem anderen persönlichen Schwerpunkt.

Steinmeier verkörpert "Patriotismus mit gemischten Gefühlen"

Steinmeier ist geradezu die Verkörperung dessen, was er bei der Feierstunde zum 9. November im Schloss Bellevue jetzt "Patriotismus mit gemischten Gefühlen" genannt hat. Dieses Datum erinnert an etliche, sehr unterschiedliche Ereignisse in der jüngeren Geschichte, von denen jedes einzelne aber nach wie vor identitätsbestimmend für das heutige Deutschland ist. Der Hitlerputsch von 1923 und die Pogrome von 1938 stehen dafür, dass es im Lande Goethes keine Begrenzung des Bösen gab und dass es kein Ende dieser Verantwortung geben kann. Der Sturz der Monarchie 1918 und der Mauerfall 1989 wiederum zeigten Gesichter eines ganz anderen Deutschlands, einer Republik der Hoffnungen.

Der 9. November sollte, auch da ist Steinmeier zuzustimmen, "ein Tag des Nachdenkens über unser Land" sein. Dies würde man nicht durch die Institutionalisierung des Nachdenkens erreichen, also durch einen Feiertag neben oder anstelle des Tages der Deutschen Einheit. Viel besser wäre, der 9. November würde ein Thementag in Schulen und an Universitäten, in Parlamenten und Akademien, in Theatern und Konzerthäusern werden. Die Möglichkeiten für diese Form des Nachdenkens sind schier endlos; der Bundespräsident wäre dafür alljährlich ein guter Schirmherr.

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