Süddeutsche Zeitung

Tatort Stuttgart:Statt an Türen pocht der Kommissar an Seitenscheiben

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Im Stuttgarter Tatort wird ein Kind überfahren und die Kommissare ermitteln zwischen Autos im Stau. Jeder Fahrer könnte der Täter sein. Eine Episode, der Wundersames gelingt.

Von Holger Gertz

In dieser Episode von Dietrich Brüggemann gelingt Wundersames. "Stau" hat alles, was sich Freunde des gepflegten Mitratens wünschen - der Stuttgarter Tatort ist traditionell, aber er ist auch experimentell, denn ermittelt wird in einem Verkehrsstau auf der Neuen Weinsteige. Jeder Fahrer könnte derjenige sein, der kurz vorher in einem Wohngebiet ein Mädchen überfahren hat. Weil dieses Kammerspiel auf der Straße stattfindet, klingelt der Kommissar nicht an Türen, sondern pocht an Seitenscheiben und fragt: "Darf ich reinkommen?" Schließlich ist im Stau so ein Auto nicht nur Auto, sondern Rückzugsort und Heimathölle.

Ein Krimi, der auf vielen Ebenen gut funktioniert. Sämtliche Charaktere sind liebevoll ausgesucht, der Wutrentner und die Karrieretante und die junge Mutter, die sich den Launen ihrer zehnjährigen Krawalltochter komplett ausgeliefert hat. Das ist hervorragend gespielt und von Brüggemann gemeinsam mit Daniel Bickermann mindestens genauso gut betextet. Allein dieses Ehepaar, das den Termin bei der Paartherapie verpasst: Die Frau, verbittert vom unerfüllten Kinderwunsch, pestet gegen ihren Mann und sogar gegen dessen Fahrkünste, die im Stau zum Erliegen gekommen sind. Großer Satz: "Lieber keine Kinder als Kinder, die vom eigenen Vater totgefahren werden." So ergänzt sich Schweres und Leichtes. Wesentlicher Unfallzeuge ist ein Dreijähriger, der ein sehr hübsches Phantombild des Unfallwagens anfertigt. Wie Dreijährige halt Autos malen.

Kommissare auf der Höhe ihres Schaffens

Hat jemand gesagt, da würden doch nur Klischeefiguren gezeichnet? Ach, der stelle sich in einen Stau oder setze sich in die Bahn, um festzustellen: All diese Typen gibt es wirklich. "Stau" ist auch ein Film über die Wohlstandsmenschen des Jahres 2017, die so individuell und feinfühlig sind und ihre Töchter "Miris" nennen. Aber in der Drucksituation platzt alles Gewöhnliche aus ihnen hervor.

Leider wird's im Tatort immer dann peinlich, wenn eine Meute was skandiert, aber abgesehen davon: sehenswerte Folge. Auch deshalb, weil die hervorragenden Kommissare Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare) auf der Höhe ihres Schaffens sind. Ein eingespieltes Gespann, das - nach Auflösung des Staus - noch lange weitermachen möge.

ARD, Sonntag, 20.15 Uhr.

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Quelle:
SZ vom 09.09.2017
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