Süddeutsche Zeitung

"Ich bin ein Star" bei RTL:1 a Gehacktes

Lesezeit: 4 min

RTL zeigt mit seiner aktuellen Dschungelshow, was sehr gutes vom Rest des Trashfernsehens unterscheidet: Ausleuchten, nicht Ausschlachten.

Von Ulrike Nimz

In der legendärsten Szene von Francis Ford Coppolas Antikriegsepos Apocalypse Now liegt Marlon Brando in einer Tempelruine und sinniert über die Abgründe des Lebens. Der Verstand von Colonel Kurtz ist genauso umschattet wie seine Lagerstätte in der grünen Hölle Vietnams. Alles ist Paranoia, Sinnlosigkeit, "the Horror" eben. Und es gab Momente in dieser ersten Woche des Dschungelcamps, die wie ein skurriles Reenactment wirkten, in der Hauptrolle: Anouschka Renzi, die murmelnd auf ihrem Feldbett lag, den Blick ins Nichts: "Was für eine Scheißshow."

Seit das Virus die Welt im Griff hat, kann so ein Satz für das Leben im Allgemeinen gelten - aber sicher nicht für die lebensnahe Fernsehunterhaltung. Denn die liefert verlässlich.

In den ersten sieben Tagen des RTL-Premiumformats "Ich bin ein Star, holt mich hier raus" (IBES) ist ein Trauerfall zu verzeichnen, dazu ein handfester Rassismus-Eklat samt Rauswurf. Ein Affe verrichtete seine Notdurft auf dem Kopf von Simplicissimus Filip Pavlović. Influencerin Tara Tabitha kam dem Skorbut zuvor und verlor Teile eines Zahns. Eine ganze Folge lang hielt sie sich die Hand vor den Mund, was wahlweise den falschen Eindruck von Schüchternheit erzeugte oder, naheliegender: von Übelkeit.

Die aktuelle Staffel des Dschungelcamps zeigt prototypisch, warum das Format seit Jahren so gut funktioniert. Das Zauberwort heißt Editiermacht. Schon zwei Mal kroch die hässliche Wirklichkeit ins Bild wie ein Kakerlak in Körperöffnungen. Das Model und Reality-Sternchen Janina Youssefian benutzte im Streit mit Model und Reality-Sternchen Linda Nobat eine rassistische Beleidung und musste gehen. Als die Schauspielerin Tina Ruland im Camp die Nachricht vom Tod einer Freundin erhielt, wusste Moderator Daniel Hartwich offenbar nicht Bescheid, entschuldigte sich tags darauf für sein unangemessenes Verhalten. Das unterscheidet gutes von schlechtem Trashfernsehen: ausleuchten, nicht ausschlachten.

Wie Tina Ruland mit Sozialarbeitersound alle in den Wahnsinn treibt: Grauen de luxe

Während die auf Konfrontation gecasteten Teilnehmer von Sumpfshows wie Sommerhaus der Stars oder Promis unter Palmen einander ins Gesicht spucken oder sich bis zum Filmriss betrinken, dreht sich die Eskalationsspirale bei IBES vergleichsweise gemächlich. Man setzt hier auf natürliche Katalysatoren zwischenmenschlicher Zerrüttung: Schlafmangel, Unterzuckerung, Hülsenfrüchte.

Und so ist Anouschka Renzis heitere Überlegenheit ("Ich habe eine Schauspielausbildung!") in der Sekunde perdu, als sie ihre Ohrenstöpsel abgeben und die mittlere Nachtschicht am Feuer übernehmen soll. Dann verweist sie entgegen branchentypischen Gepflogenheiten auf ihr fortgeschrittenes Alter und giftet die vernunftbegabte Tina Ruland an, diese habe "keine Emotionen im Leib" und möge sich doch bitte "gehackt legen" (Hmmmmm, lecker Gehacktes!). Überhaupt, Tina Ruland. Wie sie sich nie vorm Abwasch drückt, klaglos die vegetarische Alternative zur Kudu-Lende verzehrt und mit ihrem Sozialarbeitersound so ganz nebenbei das halbe Camp in Colonel Kurtz'sche Sphären des Wahnsinns treibt. Plötzlich erinnert man sich, dass es irgendwo im Camp eine Machete geben muss. Das Grauen. Das Grauen. Das Grauen.

Harald Glööckler hingegen, der auf Unerfahrene zunächst gewirkt haben muss, als sei er in einen Hornissenschwarm geraten, ist inzwischen das Gesicht eines neuen Dschungel-Stoizismus, er ist der wandelnde Beweis, dass Würde und Wildnis sich nicht ausschließen. "Hier muss einem gar nichts mehr peinlich sein", sagt er zu Tabitha, als die lautstark über ihren zahnärztlichen Notfall klagt, ausgerechnet bei dem Mann, der in weiser Voraussicht seine Frisur zu Hause gelassen hat. Glööckler ist ein Zen-Meister des Dschungels, er ext pürierte tausendjährige Eier wie andere den Morgensmoothie und nennt seine Mitcamper zärtlich "Blagen". Wenn Glööckler am Lagerfeuer mit großer Ernsthaftigkeit erklärt, dass die Seele seiner verstorbenen Mutter in einen Pfau gefahren ist, spürt man keine Häme, sondern den tiefen Wunsch, dass nach dem Ableben des exzentrischen Modeschöpfers mindestens ein Einhorn bereitsteht.

Was zu den Problemen der diesjährigen Staffel führt: Eigentlich glaubt niemand, dass am Ende jemand anderes als Glööckler die Dschungelkrone trägt. Diese Vorhersehbarkeit ist das eine, das andere betrifft so ziemlich jedes langjährige Reality-Format: Die Teilnehmer wissen inzwischen nicht nur genau, was auf sie zukommt, sondern auch, was von ihnen erwartet wird, was Quote bringt und die Klatschspalten zum Glühen. In Germany's Next Topmodel werden die epischen Zickenkriege inzwischen von den Kandidatinnen selbst orchestriert. Keine der jungen Frauen hier hofft noch auf eine Traumkarriere. Das Geld wird ohnehin nicht mehr auf den Laufstegen verdient, sondern bei Instagram - da zählen Follower, da zählt nicht die Tageslaune von Heidi Klum.

Auch bei IBES vergehen inzwischen kaum mehr als 24 Stunden bis zur ersten Lebensbeichte. Jasmin Herren packt gegen alle Vorsätze über ihren verstorbenen Ehemann aus, über dessen Familie und andere Abhängigkeiten. Harald Glööckler spricht über seine traumatische Kindheit, den gewalttätigen Vater, den besitzergreifenden Partner. Der Soap-Darsteller Eric Stehfest gesteht: "Ich bin hier, um gehört zu werden!" Man möchte ihm zurufen: Eric, wenn du dich wirklich mit deiner Mutter versöhnen willst, dann ruf sie doch bitte mal an!

Die Krönung: Der Giftpfeil von Sonja Zietlow gegen Nachrichtenfrau Pinar Atalay

Glücklicherweise gibt es ja noch Moderation, Schnitt und Geräuschdesign, die nicht nur meisterhaft vergnüglich, sondern im Idealfall auch entlarvend sind. Renzi kann noch so beherrscht in die Beschwerdekabine namens "Dschungeltelefon" stapfen, wenn die Tür quietscht wie ein sich öffnender Sarg, ist klar, dass gleich ein Ausbruch kommt, der vor allem eines ist: todespeinlich. Sicher vor einem gut platzierten Dschungeldiss ist eigentlich niemand, nicht einmal die formatfremden Kolleginnen sind es. Wer es für eine gute Idee hielt, dass Ex-ARD-Moderatorin Pinar Atalay bei RTL Direkt in einer zehnminütigen Pause zwischen Lagerkoller und Ekelprüfung über Impfpflicht, Kindesmissbrauch und Ukrainekrise informiert, ist nicht abschließend zu klären. Für einen tödlichen Giftpfeil der Kollegin Zietlow taugt es allemal: "Mich haben sie auch damals so zu RTL geholt: Hochglanz, alles ganz seriös, Informationsoffensive und so", flötet die IBES-Gastgeberin: "Und wo sind wir jetzt beide gelandet? Im Dschungel!"

Das Schlusswort hat Linda Nobat, die zum sechsten Mal in Folge mit zwei Mitcamperinnen in die Dschungelprüfung muss. Alle sind tapfer, aber furchtbar schmutzig, es gibt null Sterne, und mitten im Chaos bricht es aus ihr heraus: "Halt doch die Klappe und guck zu!!" Zu Befehl, Linda.

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