Süddeutsche Zeitung

ARD-Serie "Nackt über Berlin":Die netteste Operette der Welt

Lesezeit: 2 min

Axel Ranisch hat gerade einen Opernfilm gedreht, jetzt wechselt er mit "Nackt über Berlin" zur Thriller-Serie mit Coming-of-Age-Elementen. Klingt verrückt und ist außerdem: ganz, ganz wunderbar.

Von Philipp Bovermann

Es gibt ja so selten Schönes auf der Welt, dass man ihr hier erst mal Einhalt gebieten will durch ein Gedankenspiel: Wie hätte wohl die ARD-Serie Nackt über Berlin ausgesehen, hätte nicht Axel Ranisch Regie geführt, sondern irgendein Fernseh-Wichtigtuer?

Der Plot hätte Übles erahnen lassen. Zwei Schüler der Oberstufe sperren heimlich ihren Direktor in seinem Smarthome ein und sprechen mit ihm über eine anonymisierte Direktverbindung zu seinem Laptop, sie nennen sich "Gott", sie kommen sich einander näher, während er drinnen tobt und schmeichelt und rätselt, wer ihm das antut und aus welchen Gründen. Erst nach und nach wird klar, dass der Gefangene etwas zu verbergen hat und es sich um ein Verhör handelt. Ein bisschen Folter, ein bisschen Coming-of-Age - man sieht vor dem inneren Auge schon die Bilder: Beton und Glas und kalte Farbtöne, die beiden Folterknecht-Jungs schreien sich ausgiebig an, leere Gesichter, vermutlich ist irgendwie der Kapitalismus schuld, im Beschreibungstext steht was von Kammerspiel, gähn, schnarch.

"Die Polizei ist für euch Weiße da", sagt der Kidnapper

Tatsächlich aber ist Nackt über Berlin eine herrlich beiläufige und menschliche Geschichte, in der alle Figuren wachsen dürfen, in der niemand geschont, aber auch niemand vernichtet wird. Klassische Musik spielt eine große Rolle, einer der beiden Schüler, Jannik, ist dick und schwul und tröstet sich, weil er ein bisschen einsam ist, mit Tschaikowski. Dessen Kompositionen tauchen Berlin, die Kulisse, immer wieder ins zarte Licht der Verklärung. Regisseur Axel Ranisch hat kürzlich erst eine herrlich unangestrengte Mischung aus Opernfilm und gefilmter Oper ausprobiert, Orphea in Love hieß das Ergebnis und lief im Kino, Nackt über Berlin ist nun konventioneller, die Figuren singen nicht und haben, wie man das abseits von Opernbühnen gewohnt ist, ein psychologisches Innenleben. Trotzdem könnte man die Serie als Annäherung an die Form der Operette bezeichnen. Der inszenatorische Ton ist weich, freundlich, verspielt und spontan - filmische Prosa, aber von Lyrik umspielt, von Seitensträngen, kleinen, interessanten Begegnungen und Sätzen, und natürlich immer wieder: Musik.

In ihr löst sich aller Schmerz auf. Tai, so heißt der andere der beiden Kidnapper-Schüler, ist wegen seiner vietnamesischen Abstammung der "Fitschi" an der Schule. "Die Polizei ist für euch Weiße da", sagt er, also macht er das Verhör halt in Eigenregie, mit Jannik, der sich natürlich sogleich schwer in ihn verliebt und dann erotische Fantasien und Angstträume in Gestalt von Operninszenierungen erlebt.

Auch manche der Begegnungen wirken halb erträumt und seltsamerweise doch realistischer als das meiste, was einem als Vielgucker sonst so präsentiert wird. Etwa der markig-virile Sportarzt, zu dem der Vater, besorgt über die Penislänge und generell die Männlichkeit des Sohnes, Jannik schickt. Kaum sind die Türen zu und der Vater draußen, erklärt der Arzt, mit Jannik und seinen Hormonen sei alles in Ordnung, er sei schwul, wie wunderbar, zum Abschied drückt er ihm ein paar Kondome in die Hand. Das Erdende an Axel Ranischs Fantastik ist wohl, wie sonst in seinem Werk, dass sie sich weniger auf Szenarien als vielmehr auf Menschen bezieht - wie gut sie im Grunde sind, wie sehr sie sich wandeln können. Und dazu: Musik.

Nackt über Berlin, sechs Folgen, Arte, Donnerstag, ab 20.15 Uhr und im Ersten, Freitag, ab 22.20 Uhr. Sowie bei Arte.tv und in der ARD-Mediathek.

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