Süddeutsche Zeitung

Presse:Farewell  in Ohio

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Youngstown ist nun die größte Stadt der USA ohne Lokalzeitung. Dabei wäre eine solche wichtiger denn je. Abschiedsbesuch beim "Vindicator".

Von Gianna Niewel und Jordyn Grzelewski

Mark Brown steht in einem Raum ohne Fenster, Säulen tragen die niedrigen Decken. Er sieht blass aus im Röhrenlicht, wie er durch den Newsroom seiner Zeitung blickt. Des Vindicators , den in Youngstown, Ohio, alle nur "Vindy" nennen. Viele Tische sind leer geräumt, Schnurtelefone verstummt, Bildschirme bleiben schwarz. In die Stille hinein sagt Brown etwas, das auf Englisch viel poetischer klingt: "It feels like falling apart."

Am Samstag ist die letzte Ausgabe des Vindicators erschienen. Nach 150 Jahren hat der Ort nun keine Lokalzeitung mehr. Manche Leute hätten gar nicht reagiert, sagt Brown, in den USA sind sie diese Nachrichten gewohnt. Manche aber hätten verstanden, dass mehr fehlen wird als acht Seiten Zeitung für 75 Cent.

Im ganzen Land gibt es an 1300 Orten keine Zeitung mehr. Das birgt Risiken

Ein paar Tage bevor die letzte Ausgabe erscheint, lehnte Mark Brown, 60, an einem Regal, in das die Post sortiert wurde. Kaum Briefe in den Fächern. Brown hat die Zeitung von seinem Vater übernommen, der bei Konferenzen die Füße auf den Tisch legte, und - wenn es ernst wurde - die Whiskyflasche und die Zigarrenschachtel aus der Schublade zog. Der Vater wollte, dass der Junge was anderes macht, Jura vielleicht, aber der Vindicator gehörte doch der Familie. Nach dem College übernahm der Junge also die Zeitung, vierte Generation. Die Geschichte des Vindicators ist immer auch seine eigene, auch deshalb will er sie an diesem Tag zu Ende erzählen.

Die erste Ausgabe erschien am 25. Juni 1869, eine Wochenzeitung mit dem Titel Mahoning Vindicator. Bald erschien sie täglich. Ihren Namen hat sie geändert, die erste Seite wurde bunt, die Buchstaben schmaler. Währenddessen hat sie immer getan, was ihr Auftrag war: In den Zwanzigerjahren schrieben die Reporter über den Ku-Klux-Klan, daraufhin ritten dessen Mitglieder mit Fackeln die Straßen auf und ab. Sollte einschüchtern. In den Achtzigern schrieben die Reporter über Korruption in der Stadt, 70 Mafiabosse und Politiker kamen vor Gericht. Und da waren all die kleinen Meldungen über Geburten, Hochzeiten, Todesfälle, über das Leben der Menschen. Mark Brown sagt: "Die Zeitung hat die Stadt ein bisschen größer gemacht."

Und die Zeitung war ja auch selbst mal recht groß. 1977 hatte sie die höchste Auflage: 106 000 Exemplare während der Woche, 166 000 am Sonntag. 600 Angestellte arbeiteten dort, es gab Lokalbüros in Sharon, New Castle, Salem. Ende der Achtziger beschwerten sich die Zeitungsjungen über das Gewicht, und Mark Brown und seine Mutter dachten zwischendurch darüber nach, den Vindicator zu verkaufen, die Angebote hätten bei 120 Millionen Dollar angefangen, sagt er. Sie wollten nicht.

Youngstown im Nordosten der USA ist mit 65 000 Einwohnern nicht die erste, aber die bisher größte Stadt ohne Lokalzeitung. Auch deshalb ist es wichtig, die Gründe für das Ende der Zeitung zu kennen. Es sind dieselben, wie so oft in diesen Fällen, überall auf der Welt: weniger Anzeigen, weniger Abonnenten. 2004 streikten die Angestellten neun Monate lang, es gab unzählige Kündigungen. Mark Browns Augen sind gerötet, als er von dieser Zeit erzählt. Er hat sich Kaffee in zwei Warmhaltebecher gefüllt. Wach bleiben.

Natürlich weiß er, wie das war, als klar war, dass der Vindicator schließen wird. Er hat seinen Angestellten eine Einladung geschickt: Freitag, 28. Juni, Besprechungsraum. Er hat die Tische an die Wand geschoben, die Stühle in Reihen gestellt. Erst saßen da die Ressortleiterinnen und Ressortleiter, dann die Anzeigenabteilung, am frühen Abend, als die Zeitung gedruckt war, die Redakteurinnen und Redakteure. Er legte alles offen.

2010 hat er eine neue Druckerpresse gekauft, für zwölf Millionen Dollar, er wollte andere Zeitungen mitdrucken, aber deren Auflagen sanken ja auch. 2017 wollte er den Vindicator verkaufen, aber niemand schlug zu. 2018 rief er alle in der Redaktion zusammen und fragte, wo können wir sparen, was können wir versuchen, habt ihr Ideen? Nur noch Kioskverkauf, nur noch bezahlpflichtige Inhalte im Internet, aber unterm Strich stand noch ein Minus von 800 000 Dollar im Jahr. 2019 hatte er das ersparte Geld aufgebraucht, 23 Millionen Dollar. Er sagte den 150 Angestellten, dass er alles getan habe, um die Entscheidung zu verhindern. Es waren dann doch zu viele Abers.

Er sagte es zu Bertram de Souza, 60, dem ersten schwarzen Redakteur der Zeitung. In seinen Kolumnen hat er Bürgermeister vor sich hergetrieben, Mafiabosse, Firmenchefs. De Souza ist geschieden, keine Frau, keine Kinder, nur so, sagt er, kann man seinen Job machen. Wenn man keine Angst haben muss. Am Samstag ist seine 1610. Kolumne erschienen, diesmal ging es um ihn. Ihr Titel: "Wieso ich 40 Jahre blieb". Er will Youngstown verlassen, was hält ihn hier noch? Mark Brown sagte es auch Jess Hardin, 26, die immer wusste, dass dieser Tag kommen würde.

Als die letzte Ausgabe angedruckt war, trank sie Tequila mit den Kolleginnen und Kollegen, von denen manche ihre Kisten gepackt haben, um nach Washington zu ziehen oder nach Columbus, sie hat ihnen gesagt, dass sie sich ja mal schreiben könnten. Keep in touch. Jess Hardin ist jetzt arbeitslos.

Im Newsroom ist es Abend geworden, Mark Brown will nicht mehr über die Gründe reden, sondern über die Folgen. Seit einiger Zeit beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit dem Zeitungssterben in den USA. An der Universität in North Carolina haben sie gezählt, wie viele Zeitungen in den USA seit 2004 dichtgemacht haben. Es sind 2000. In 1300 Orten haben die Menschen gar keine mehr.

Dabei wären sie im Moment wichtiger denn je.

Denn Youngstown liegt in einer Gegend, die die Amerikanerinnen und Amerikaner noch immer Rostgürtel nennen, obwohl viele Schlote nicht mehr rauchen, viele Fließbänder stillstehen. In der Stadt hat eine Fabrik komplett geschlossen, General Motors ist abgewandert. Bei der vergangenen Wahl wählten die Menschen demokratisch, aber knapp.

Wenn Mark Brown sagen soll, wieso hier eine Lokalzeitung hingehört, sagt er nur: Fake News. Er habe nie aufgehört, daran zu glauben, dass die Menschen guten Journalismus brauchen, um sich zu orientieren. Dann sagt er noch ein Wort: Facebook. Ein Algorithmus spiegle nicht die Realität, er versuche das nicht mal. Er verzerre sie. "Wenn jetzt also Fake News auf Facebook ..." Er beendet den Satz nicht.

Wenn ein Ort seine Zeitung verliert, verändert sich die Perspektive auf ihn. Was denken Studentinnen und Studenten, die überlegen, ob sie nach dem Abschluss bleiben sollen? Was denken Unternehmen, die nach Youngstown ziehen wollen? Mark Brown hat den Namen der Zeitung und die Liste der Abonnenten an die nächste Lokalzeitung verkauft. Dort werden sich in Zukunft drei Redakteure um Youngstown kümmern. Drei. Ansonsten fahren gerade Google und der Medienkonzern McClatchy durch die Stadt. Sie planen ein Onlineportal und wollen wissen, was die Leute lesen wollen. Ein Büro in Youngstown soll es erst mal nicht geben.

Brown findet es schwierig, dass sich Google ins Zeitungsgeschäft einmischt. "Früher ging es immer darum, wessen Artikel in der Google-Suche oben steht. Jetzt geht es darum, gegen Google anzutreten." Und weiter: "Das ist ein Gegner, gegen den man nicht gewinnen kann." Er habe Sorge, dass auch das die Wahrnehmung der Menschen verzerrt.

Ihm gehört ein TV-Sender im Ort, der Gewinn macht, die Kinder sind aus dem Haus. Aber der Sender berichtet eben nur einmal, wenn ein Politiker einem Freund Aufträge zum Straßenbau zuschustert, die fahren nicht am nächsten Tag noch mal hin. Fernsehen funktioniert anders. In den nächsten Tagen wird auch Brown seinen Schreibtisch räumen. Den Ventilator einpacken, den er nur aufgestellt hat, weil die Klimaanlage kaputt ist. Wieso hätte er noch einen Techniker rufen sollen? Er wird die Zettel, Briefe, Notizen abheften. Wird die alten Druckplatten von den Wänden des Büros hängen, die Geschichte einer Stadt in Rahmen. Dann wird er einen Käufer für die Druckerpresse suchen, aber ganz wird sie niemand wollen. Er verkauft sie in Teilen und verschrottet den Rest.

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Quelle:
SZ vom 05.09.2019
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