Süddeutsche Zeitung

Polizeiruf 110 aus München:Ein Ort des Bedröhnten

Lesezeit: 4 min

Von Holger Gertz

München ist sozusagen die deutsche Krimi-Hauptstadt, nicht nur die Tatort- Kommissare Veigl, Batic, Leitmayr ermittelten und ermitteln hier, auch Stephan Derrick und Kommissar Keller. Mit dem Blick der Gegenwart betrachtet mag es so aussehen, als wären Derrick und Der Kommissar Programme für Spießbürger gewesen, aber das stimmt nicht. München war mal im weiteren Sinne funky, nach Mitternacht sogar angemessen verlottert, und wenn zum Beispiel Zbyněk Brynych Regie führte, konnte sich eine handelsübliche Kommissar-Episode zum Experimentierfeld entwickeln. Tod einer Zeugin heißt eine Folge von 1970, in der Brynych sein Publikum befeuert mit Großaufnahmen von überhitzten Gesichtern. Herb Alperts Fetenhit "A banda" wird großzügig eingesetzt, und irgendwann kichert das halbe Kommissariat, als hätten alle sehr, sehr bunte Pillen eingeworfen. Obwohl's noch Schwarz-Weiß-Fernsehen war.

Ein paar Stücke für die Ewigkeit haben sie zustandegebracht beim Münchner Polizeiruf

Inzwischen geben zwar auch im Fernsehen die Bedenkenträger und Nichtraucher den Ton an, der Münchner Polizeiruf allerdings ist ein Platz geblieben, wo das Schräge nach wie vor seinen Platz hat, das Ungewöhnliche, Bedröhnte und Quergebürstete. Die Folge Fieber hat der Kommissar Hanns von Meuffels (Matthias Brandt) einmal zu weiten Teilen in Fieberträumen verbracht und ist im Wahn auch noch dem Mann begegnet, der ihn fast gekillt hätte, gespielt vom großen Österreicher Georg Friedrich übrigens. Brandt und Friedrich: irres Gespann. In Er sollte tot verhörte der Kommissar Jürgen Tauber (Edgar Selge) die Prostituierte Maria Lorenz (Rosalie Thomass), auf unvergleichliche Art. Eine kaputte Figur, diese Nutte, aber jeder Zuschauer, der sie sah, wird sich spontan verliebt haben, sie hatte zwar kein Unrechtsbewusstsein, aber auch nicht den Funken von Böswilligkeit oder Häme. Und Tauber nahm sie ins Gebet, der ganze Film ist ein langes Verhör, unterbrochen von Rückblenden, und am Ende reden sie wie Verbündete miteinander, allerdings vollkommen unpathetisch. Sagt sie: "Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich das war." Sagt er: "Warst du aber."

Bemerkenswert viele großartige Krimis und ein paar Stücke für die Ewigkeit haben sie zustande gebracht beim Münchner Polizeiruf. Die Freiheit, ausprobieren zu können, lockte die allererste Garde deutscher (Kino)-Regisseure: Graf, Steinbichler, Adolph, Petzold, Kreuzpaintner. Nachdem Matthias Brandt als Kommissar aufgehört hat, startet an diesem Sonntag Verena Altenberger als neue Ermittlerin Elisabeth Eyckhoff, genannt Bessie. Der Ort, von dem die Wolken kommen heißt das erste Abenteuer, Florian Schwarz ist der Regisseur. Ein schweres Erbe, das man der Österreicherin leichter zu machen versucht, indem man sämtliche Parallelen zu den prägenden Vorgängern zuschüttet. Die Kommissarin, die Verena Altenberger da spielt, ist nicht mal Kommissarin, sondern Streifenpolizistin im höheren Dienst, die aus Personalmangel zu ihrer ersten Ermittlung kommt. Bessie ist eine Frau von Anfang dreißig, die die Welt umarmt - obwohl ihre erste Begegnung mit der Welt der Polizei nicht einladend war. "Als Kind hab' ich mal gesehen, wie ein Polizist in seine Mütze onaniert hat - da habe ich gedacht, dass alle Polizisten das machen, damit die Mütze besser am Kopf haftet."

Schließlich steht das gesamte Ermittlerteam mit Hasenohren im Panorama herum

Schöne Dialoge dieser Art hält der Film bereit, spannende Ideen, Regelverstöße. Wie eine Frau vom Jugendamt aus dem Rennen gekickt wird, ist eine Geschichte für sich - und ein Gruß an alle freiberuflichen Aufpasser, die angestrengt darauf achten, ob denn die Polizeiarbeit auch realistisch genug abgebildet wird. In der eigentlichen Story geht es um einen traumatisierten Jungen und die Frage, wer oder was für seinen beklagenswerten Zustand verantwortlich ist. Die für den Polizeiruf typische Bewusstseinserweiterung wird hervorgerufen durch Hypnose, in die der Junge versetzt wird und schließlich auch die Ermittlerin Bessie. Das ist ein Experiment, und hier ist es auch etwas drüber. Bessie begegnet Geistern des eigenen Lebens, und schließlich steht das gesamte Ermittlerteam im Panorama herum, mit Hasenohren auf dem Kopf. Man hört einen Beamten sagen: "Gegen Ende wurd's etwas wirr." Und dieser Satz steht dann auch nicht komplett grundlos im Drehbuch.

Das Besondere an den großen Geschichten aus dem Münchner Polizeiruf war die Bereitschaft, jederzeit über die Grenze des Gewohnten wegzuspielen, gleichzeitig aber auch Anker zu setzen, die die Geschichten zusammenhalten. So ein Anker war oft das Verhältnis des Kommissars zu einer anderen Hauptperson. Wie gehen Menschen miteinander um? Das interessiert die Leute, und das war gut zu beobachten bei Tauber und seiner Prostituierten, genauso bei Meuffels und dem verzweifelten Jens Baumann, der versucht, ihn nicht von seiner Unschuld zu überzeugen, sondern von seiner Schuld. "Wer gibt mir die Strafe, die ich verdiene?", sagte irgendwann Baumann. Und Meuffels: "Vielleicht ist es Ihre Strafe, frei zu sein."

Was für ein Dialog.

Diese erdende und gleichzeitig erhebende Beziehung von Mensch zu Mensch fehlt im aktuellen Stück, der verstörte Junge hat nicht das Gewicht, Spielpartner der Ermittlerin zu sein, und so wirkt Bessies Hingabe für ihn rührend, zugleich auch etwas aufgesetzt. Aber es ist der erste Film mit Verena Altenberger, da werden die langen Linien erst angelegt, und vieles soll sich noch entwickeln. Es gibt auch zwei Ermittlerkollegen, Wolfie und Cem. Schon von den Namen her ein zeitgemäßes Münchner Trio des Jahrgangs 2019: Bessie/Wolfie/Cem. Jedenfalls weckt der erste Film die Neugier, dabei zuzusehen, was aus dieser Ermittlerin wird, die erfreulicherweise so gar nicht infiziert ist von der Gegenwartserkrankung namens Zynismus.

Da geht noch was. Und das gehört ja auch zum Konzept der experimentierfreudigen Entwickler des Münchner Polizeirufs: Geduld zu haben mit den eigenen Leuten.

Polizeiruf 110 , Das Erste, Sonntag, 20.15 Uhr.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4599764
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 14.09.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.