Süddeutsche Zeitung

"Krieg der Träume" bei Arte:Linke und Faschisten, Pazifisten und Demokraten, Monarchisten und Nudisten

Lesezeit: 4 min

Von Holger Gertz

Geschichte wird im Fernsehen zu gern und zu oft als Zeitzeugen-TV präsentiert. Eine schwarz-weiße oder sonst wie verwaschene Sequenz, dräuende Musik, dann - aus der Gegenwart gesprochen - der im Studio aufgenommene Kommentar von jemandem, der "Bescheid weiß", weil er damals ja dabei war. Die Trümmerfrau. Hitlers Telefonist. Der Co-Pilot der entführten Lufthansa-Maschine "Landshut". Ein Bewohner des Olympischen Dorfes bei den Terrorspielen von München 1972. Liegen die Ereignisse länger oder sogar wesentlich länger zurück, klärt statt des Zeitzeugen ein Historiker über den Gang der Dinge auf, beziehungsweise wendet ein Elefantenexperte seine Kenntnisse über Elefanten der Gegenwart auch auf Elefanten der Vergangenheit an und beschreibt, wie Hannibal die sensiblen Tiere über die Alpen bekommen hat.

Geschichte im Dokumentarfernsehen wird erklärt, das macht sie gut konsumierbar, und schon beim Betrachten des ersten Teils des Dokudramas Krieg der Träume merkt man, wie sehr man sich an das vorgekaute Erklärfernsehen gewöhnt hat. Denn hier ist auf einmal alles anders, kein Zeitzeuge und kein Wissenschaftler spricht, es gibt nicht mal die Stimme aus dem Off. Ordnung schaffen muss der Zuschauer selbst, er begegnet einem Fernsehen, das fordert.

Alles rauschte auf die Nazizeit zu? Die Serie zeigt: Es hätte auch anders kommen können

Denn, um im Elefantenbild zu bleiben: Die achtteilige und 400 Minuten schwere Dokuserie Krieg der Träume von Jan Peter und Gunnar Dedio über die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ist, was Anspruch und Aufwand angeht, ein Mammutprojekt. Über dreißig Sender und Fördereinrichtungen sind beteiligt an dieser internationalen Koproduktion im Auftrag von ARD und Arte. In 15 Ländern wird die Serie gezeigt, in Europa, aber auch in Kanada.

Erzählt wird die noch vergleichsweise schwach ausgeleuchtete Phase zwischen den Jahren 1918 und 1939. Alte Ordnungen waren zerstört, Linke und Anarchisten waren in Europa am Start, Pazifisten und Demokraten, alte Monarchisten und neue Nudisten und kalte Krieger, aber am zähesten waren die Faschisten. Ende September kommt im Ersten die große und gefeierte Serien-Erzählung Babylon Berlin über die flirrend-berauschte Phase in den Zwanzigern, diese maximale Erregung kurz vorm Abgrund. Krieg der Träume ist viel mehr als nur Ergänzungsprogramm.

In einer Montage aus Spielszenen, Dokumentarsequenzen und Zitaten wird eine Zeit wachgerufen, in der eben nicht nur die Nazis immer bedrohlicher aus den Kulissen traten. So wird ja, mit dem Wissen von heute, diese Phase oft beschrieben - alles rauscht wie ein Sog auf die Naziherrschaft zu, den Untergang. Dabei gab es menschenfreundliche Ansätze genug, es hätte alles auch anders kommen können; die bessere Welt war immer sichtbar. Erzählt wird zum Beispiel die Geschichte von Elise Ottesen, schwedische Sexualaufklärerin in einer Zeit weit vor der sexuellen Aufklärung.

Der Autor Volker Weidermann hat vor einem Jahr in seinem schönen Buch "Träumer" von der kurzen Herrschaft der Dichter in München erzählt - wer es gelesen hat, wird sich auch in diesem Fernsehexperiment zurechtfinden. Dreizehn Biografien werden in Krieg der Träume nebeneinander rekonstruiert und erzählt, anhand der wahrhaftigen Notizen und Tagebuchaufzeichnungen dieser Menschen. Jeder steht für eine der vielen Strömungen.

Die Produktion ist auch ein Angebot an die Zuschauer, tiefer ins Thema einzusteigen

Zum Beispiel Hans Beimler, Marinesoldat, zur Zeit der Träumer in München, später kommunistischer Abgeordneter, inhaftiert in Dachau, entkommen aus Dachau. Zum Beispiel Rudolf Höß, später Lagerkommandant in Auschwitz, hier noch Rapportführer im KZ Dachau, eine Bestie im Werden. Zum Beispiel Pola Negri, ein Star des Stummfilms in Hollywood. Aber als der Tonfilm sich durchsetzte, wurde sie nicht mehr gebucht, ihr Akzent war zu stark, der technische Fortschritt war ihr persönlicher Rückschritt. Zum Beispiel Unity Mitford, eine von sechs Töchtern des Barons David Bertram Ogilvy Freeman-Mitford, eine junge Antisemitin und Hitlerverehrerin aus London, die sich schon früh in Hitlers Lebensgewohnheiten einfühlte ("The Fuhrer is a Vegetarian!") und ihn schließlich in München, Osteria Bavaria, immerhin so beeindruckte, dass er sie fortan mit auf Reisen nahm. Hitlers Leute nannten sie "Unity Mitfahrt" deswegen.

Die Dokuserie denkt über Leben nach, die Leben der Menschen verdichten sich zu Geschichten. Aber die Geschichte komplett auszudeuten und sozusagen besserwisserisch zu erklären - dieser fernsehtypischen Anmaßung widersteht das Projekt. Bilderbögen werden aufgefächert, Assoziationsketten geknüpft, das Leben der Menschen wird gezeigt, während es passiert. Sicher kann man sich da und dort auch überfordert fühlen, wenn zu den Spielszenen und Dokusequenzen schließlich noch Zitate von Zeitgenossen in die Handlung reingerufen werden, manchmal etwas theatralisch, manchmal untermalt von überaus gefühligem Klavier. Aber jedes Zitat erzählt eine eigene Geschichte.

Auktionsbericht einer Bank: "Durch den von der SA organisierten Volkszorn war es möglich, den Kaufhauskonzern Tietz zu einem Vorzugspreis vollständig zu übernehmen. Der Alteigentümer hat das Reich verlassen."

Klage des Halbwaisen George Vitcoq: "Mein Vater ist in den Krieg gezogen, ohne Abschied von mir zu nehmen. Ich war fünf Jahre alt, und er hat sich freiwillig gemeldet. Das habe ich ihm niemals verziehen."

Bilanz des Bürgers Martin Hauser: "Man findet nirgends Recht oder Hilfe. Die Polizei ist nationalsozialistisch und wird überall von Hilfspolizisten aus den Reihen der SA ergänzt."

Am Ende ist diese Produktion mit allen multimedialen Nebengeräuschen auch ein Angebot an die Zuschauer, in das Thema tiefer einzusteigen. Zu jeder Biografie, zu jedem Stichwortgeber gibt es etwas nachzulesen, im Netz oder in richtigen Antiquariaten. Von Martin Hauser zum Beispiel die "Tagebücher eines deutschen Juden". Und so leistet diese Art Fernsehen einen wichtigen Beitrag, um den Erosionen der irritierenden Gegenwart zu begegnen. Es bildet nicht nur ab. Es bildet, und es lädt zur Weiterbildung ein.

Krieg der Träume , Arte, bis Donnerstag, je 20.15 Uhr, sowie im Ersten, 17., 18. und 24. 9., 22.45 Uhr.

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Quelle:
SZ vom 11.09.2018
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