Süddeutsche Zeitung

"Die Einkreisung" auf Netflix:Zwischen Ratten, Dreck und eitrigen Krankheiten

Lesezeit: 2 min

In "Die Einkreisung" jagt Daniel Brühl im Jahr 1896 einen Triebtäter durch New York - zusammen mit dem späteren US-Präsidenten Theodore Roosevelt.

Von Jakob Biazza

Es mordet sich natürlich ganz hervorragend in einer derart kaputten Welt. Wobei "morden" vielleicht etwas schlicht klingt, angesichts des Martyriums, das der kleine Junge durchlebt haben muss. Wer mit einer Serie aktuell das Label "Psychothriller" anpeilt, misst sich schließlich mit sehr hohen Gewaltstandards. Also, bitte: Die Organe des Toten liegen über den Tatort verstreut. Die Genitalien fehlen, eine Hand wurde abgetrennt, Blut tropft in den wolkigen Schnee, der sich über das New York des Jahres 1896 gelegt hat. Und dort, wo die Augen sein sollten, starren zwei leere Höhlen in die Nacht. Die Kamera wird irgendwann noch etwas zu genüsslich in die Höhlen hineintauchen, wie sie überhaupt viele etwas zu grausige aber auch grandios schöne Bilder einfängt in dieser sehr aufwendig gefilmten Serie. Der Junge trägt ein weißes Kleid.

Und das offenbar beruflich. Denn die Welt, in der er es sich so hervorragend mordet, jene Ära, die man "Gilded Age" nannte, also "Vergoldetes Zeitalter", ist aufs Widerlichste gespalten. Unten leben die Menschen zwischen Ratten, Dreck und eitrigen Krankheiten. Oben behandeln die Menschen sie wie eben solche. Unten prügeln arme Familien ihre Söhne aus dem Haus (und damit quasi direkt in die Prostitution), nur weil die ein Kleid anziehen wollen. Oben diniert man in opulent vergoldeten Salons und wedelt aufkommende Probleme mit dem seidenen Fächer beiseite.

Und irgendwo inmitten dieser Leistungsschau menschlicher Deprivation schlachtet in Die Einkreisung ein Triebtäter Straßenjungs ab. Weil die meisten Polizisten zu beschäftigt damit sind, Bestechungsgeld aus den Hurenhäusern untereinander aufzuteilen, oder der Sekretärin Sara Howard (Dakota Fanning) auf Hintern und Brüste zu geifern und sie auch sonst auf alle erdenklichen Arten männlicher Ekelhaftigkeit kleinzuhalten, muss hauptsächlich Laszlo Kreizler (Daniel Brühl) ihn jagen.

Kreizler ist das, was man heute einen forensischen Psychologen nennen würde - und damals schlicht als Irrenarzt abtat. Ein Mensch also, der aufgebrachten Eltern erklären muss, dass sie ihre frühpubertierende Tochter nicht mehr vor den Priester zerren müssen, nur weil die gerade in ersten, scheuen Selbstversuchen ihre Sexualität entdeckt. Und ein Mensch, der sich sehr redlich müht, den Mörder und seine noch so grausigen Motive zu verstehen, was nicht ganz einfach ist: Die Psychoanalyse wird ja parallel gerade erst in Wien entwickelt.

Kreizler ist außerdem natürlich selbst ein Getriebener, was man sehr holprig erfährt, die Serie meint es nämlich nicht immer gut mit ihren Charakteren - neben Kreizler und der für eine Zeit, die Frauen noch buchstäblich in Korsetts zwang, extrem emanzipierte Sara Howard vor allem ein Zeitungsillustrator, zwei jüdische Detektive und Theodore Roosevelt. Der spätere US-Präsident war tatsächlich von 1895 an für zwei Jahre Leiter des NYPD und reformierte die Behörde in dieser Zeit umfassend.

Eine Art mörderjagende, Korruption bekämpfende und den Zeitgeist reformierende Schicksalsgemeinschaft also. Leider eine die meiste Zeit über sehr eindimensionale. Schade: Jede der zehn in Budapest gedrehten Folgen soll fünf Millionen Dollar gekostet haben. Das sieht man der aufwühlenden, fackelbefunzelten Düsterästhetik an. Allerdings merkt man es nicht an der Erzählung - und noch weniger an den Dialogen.

Und so sind viel zu oft chronisch unterforderte Schauspieler damit beschäftigt, die kommende Handlung anzukündigen: "Ich muss selbst mit dem Jungen sprechen", sagt Kreizler. Dann geht er zu dem Jungen und spricht mit ihm. "Ich muss leben wie er, ihm dahin folgen, wohin es ihn zieht, auch wenn es der tiefste Höllenschlund ist", kündigt er die Mörderjagd an. Nun, irgendwas in der Art wird auch dann passieren.

Die Einkreisung , bei Netflix.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3952743
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 21.04.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.