Süddeutsche Zeitung

Amazon-Serie "Deutschland 89":Superman fliegt wieder

Lesezeit: 4 min

Jonas Nay als Spion Martin Rauch fingert diesmal am Mauerfall mit. Grandios besetzt, bester Geschichts-Pop.

Von Claudia Tieschky

Irgendwann in Folge zwei von Deutschland 89 sitzt Martin Rauch in einer unrenovierten Berliner Altbauwohnung am Klavier und soll spielen. Er muss seinen Gastgebern, einem ziemlich versnobten und misstrauischen westdeutschen Terroristen-Pärchen, mit der Darbietung auch beweisen, dass er Pianist ist. Dabei ist er in Wirklichkeit ja - und zwar jetzt schon in der dritten Serien-Staffel - ein legendärer DDR-Spion, der jetzt, im wilden Jahr 1989, von der CIA angeheuert und auf die beiden angesetzt wurde.

Der Jazz perlt bei Kerzenlicht, der eingebildete Linksterrorist Carl, mit Rotweinglas barfuß und wunderschöner Stimme, singt Martin dazu sozusagen aus der Hand, es wird wirklich stimmungsvoll, vielleicht ein bisschen beschämend für einen Terroristen. Am Ende murmelt Martin Rauch noch: Ja, also Jazz ist jetzt nicht so mein Spezialgebiet, bin sonst mehr so Punk. Das Abgebrühte in seinen Augen ist harmlos genug, dass Carl es nicht sehen kann, nur der Zuschauer.

Ja, Martin Rauch kann Klavier spielen, aber genauso könnte er ein in Moll verwehtes Lied singen vom Dasein als Spion, wenn er der Typ für Moll wäre. Er hat viel erlebt in den zwei Staffeln der Deutschland-Serie, die nach der ersten Staffel von RTL zu Amazon wechselte. Zum Beispiel hat er in Staffel eins mal im Alleingang den Atomkrieg verhindert. In der erklärtermaßen letzten Staffel, so viel darf man verraten, lassen ihn die Serienschöpfer Anna und Jörg Winger nun eine nicht ganz unwichtige und historisch natürlich nicht belegbare heimliche kleine Rolle beim Fall der Mauer spielen. Und ohnmächtiger Zuschauer sein beim Attentat auf den Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, in Bad Homburg im Jahr 1989.

Aber Martin Rauch kann kein Moll, er ist reinster Dur-Klang, so ist die Figur angelegt, so spielt sie Jonas Nay seit zehn Jahren besser und besser, mit einem doppelbödigen Humor und manchmal mit schüchterner Naivität: Die meiste Zeit ist der HVA-Agent Martin Rauch eben einfach ein DDR-Bürger mit Parka und Pulli, der im Jahr 1989 kaum noch dem Agenten-Job nachgeht, sondern zur Tarnung Computer verkauft. "I'm a single parent", erklärt er einmal dem etwas weitschweifigen, ungeheuer gut aussehenden CIA-Mann, und müsse jetzt endlich sein Kind von der Schule abholen. In den Problemen von Martin Rauch ging immer schon Weltpolitik einher mit dem ganz Alltäglichen.

Er ist gewissermaßen die Berliner Variante von Clark Kent, der die Brille abwirft und das Hemd aufreißt und als Superman dasteht. Die Showrunner leisten sich in ihrer höchst unterhaltsamen Pop-Variante der deutsch-deutschen Geschichte, die mit Schauspielern wie Sylvester Groth, Corinna Harfouch, Maria Schrader, Carina Wiese, Uwe Preuss und Anke Engelke grandios besetzt ist, nicht nur wieder Anleihen an das Superhelden-Genre, sondern auch an einschlägige Agentenfilme. Denn als die Mauer fällt, schlägt die Stunde der HVA-Agenten.

Westliche Geheimdienste reißen sich um das nun auf dem Markt befindliche Ost-Personal, also auch um Martin Rauch - und die alten Führungskräfte versuchen, den Westen zu infiltrieren. Das ist schön gemacht, und auch Martins ultraprofessionelle Ost-Agenten-Tante Lenora (Schrader) taucht bald wieder auf. Es wimmelt von undurchsichtigen Gestalten, niemand ist, wer er zu sein scheint, nur die Russen erkennt man am Pelzkragen. Und wenn der HVA-Mitarbeiter Fritz dem melancholischen Senior-Agenten Walter Schweppenstette (Sylvester Groth) mit glänzenden Augen ein koffergroßes Ding als brandneues Funktelefon anpreist, dann ist das pure Zeitgeschichte, und ganz nebenbei wird hübsch ironisch der Bond-Ausrüster "Q" zitiert.

Schweppenstette allerdings winkt nur unwirsch ab - er muss, auch das gehört zu den verzweigten Familienverhältnissen - seinen Enkel Max, Martins Sohn, vor den Russen retten, Hilfe kommt von der offenbar unerschütterlichen jungen Lehrkraft Fräulein Zangen (Svenja Jung), die dann noch ganz andere Qualitäten zeigt.

Die Serie des Produzenten-Ehepaars Anna und Jörg Winger, die mit Deutschland 83 begann und bei Deutschland 86 noch nicht endete, hat in Staffel drei an Tiefe gewonnen. Das kommt auch daher, dass sie ihren Figuren inzwischen lange Lebenslinien, also ein Schicksal anerzählt hat. Auf gewisse Weise erinnert das manchmal an die großartige Ostberliner Saga Weissensee von der Ur-Showrunnerin Regina Ziegler, die schon viele Jahre früher eine Familie zwischen Kadertreue und Aufbruch in die Wendezeit hineingeführt hat.

Anna und Jörg Winger zogen in den Neunzigerjahren nach Leipzig, sie Amerikanerin, er ein Westdeutscher, der bei der Bundeswehr 1989 russische Truppen abhörte. Sie hatten sich in Chile kennengelernt, reisten dann zusammen und sahen im Goethe-Institut von La Paz Ende 1990 zusammen Dokus über den Mauerfall. Anna Winger erzählt im Gespräch mit der SZ, dass die Ost-Thematik für sie beide aufgekommen sei, als sie in den Neunzigern in den Osten umgezogen sind. Jörg Winger produzierte damals für das ZDF Soko Leipzig. "Wir haben viel von dieser Wendezeit mitbekommen, denn die Wendezeit hat länger gedauert, als man denkt." Ihr ganzer Freundeskreis dort war in der DDR aufgewachsen. Diese Erfahrung ist in die, man muss sagen: leider letzte Folge ihrer Deutschland-Saga eingegangen. Auf die spezielle Winger-Weise.

Als die Berliner Grenzübergänge öffnen, hat Sylvester Groths Schweppenstette einen fantastischen Moment. Er ruft: "Oh, mein Gott" auf eine Weise, die sein ganzes Innenleben entblößt - ambivalent zwischen Entsetzen und Triumph. Ein toller Schrei! Aber ist das nicht ein äußerst merkwürdiger Schrei für einen atheistischen Kommunisten? Und erinnert es nicht verdammt an dieses amerikanische scheinüberraschte "Oh my God", das jeder Promi bei jeder Preisverleihung quiekt? Aber was soll's, schließlich gibt auch Peter Schillings "Major Tom" hier auf Englisch die Titelhymne zur Serie ab. Die Neue Deutsche Welle versteht in der Welt der Funktelefone ja sonst keiner mehr.

Deutschland 89, bei Amazon*

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