Süddeutsche Zeitung

"Anne Will" zur Hessen-Wahl:Ist ja alles schlimm genug

Lesezeit: 4 min

Die Vertreter der Volksparteien lassen sich bei "Anne Will" in Ruhe. Grünen-Chef Habeck und FDP-Chef Lindner duzen sich - und zoffen sich.

TV-Kritik von Oliver Klasen

Genau wie der Tatort ist Anne Will eine Sendung, bei der manchmal interessant(er) ist, was die Leute während des mäßig spannend dahinplätschernden Programms so in ihr Smartphone tippen. Kurzer Blick auf Twitter also, dann ist klar: Einer der besten Tweets des Abends kommt vom Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert. Zwar merkt ein User an, dass die Satiresendung Heute Show dasselbe schon vor zwei Tagen getwittert habe, aber Kühnert will das nicht gewusst haben - und es ist ja auch egal: Der Witz sitzt, so oder so: "Gut, dass letzte Nacht Zeitumstellung war. Jetzt ist es nicht mehr 5 vor 12, sondern erstmal wieder 5 vor 11."

SPD und CDU mit jeweils mehr als zehn Prozentpunkten Minus. Die Grünen bei fast 20 Prozent. Eine AfD, die feiert, weil sie jetzt in allen 16 Landesparlamenten vertreten ist. Und ein Wahlergebnis, das typisch hessisch, weil auch am späten Abend noch unsicher ist. So geht es los um kurz vor 22 Uhr bei Anne Will.

Die Moderatorin tut gut daran, die schlimmste aller Politikerphrasen, dass man jetzt bitteschön endlich über "Inhalte" reden sollte, zurückzuweisen. Deshalb unterbindet sie eine zwischendrin aufkommende Diskussion über die Zukunft der Braunkohle. Was sie interessiert, ist die Zukunft des deutschen Parteiensystems. Hier haben leider sowohl die Politiker als auch die beiden eingeladenen Experten nur vage Antworten. Politikprofessor Hans Vorländer von der TU Dresden argumentiert, früher hätten Volksparteien "Heimat und Zugehörigkeit" geboten. Das sei heute nicht mehr gefragt, aber das müsse für die Demokratie nicht schlecht sein. Nun ja. Grünen-Chef Habeck schwebt eine Volkspartei neuen Typs vor. Das Modell, dass sich innerhalb einer Partei "Arbeitnehmer und Arbeitgeber darauf einigen, nichts zu tun", sei überholt.

Den Volksparteien ergeht es wie einst Rudi Völler als Bundestrainer

Annegret Kramp-Karrenbauer und Olaf Scholz, das sind in der Talkshow-Runde die beiden Vertreter jener offenbar aussterbenden Spezies der Volkspartei. Bayern und Hessen, zwei Pleiten innerhalb von zwei Wochen, dazu miserable Umfragewerte im Bund: Es scheint wie 2003 bei Rudi Völler als Bundestrainer - stets kommt nach einem Tiefpunkt ein noch tieferer Tiefpunkt. Aber anders als damals Völler reagieren die CDU-Generalsekretärin und der Finanzminister von der SPD nicht mit einer Wutrede vor laufender Kamera, sondern erklären sachlich-seriös, warum sie in der Bundesregierung so agieren, wie sie agieren.

Der SPD-Mann beginnt seinen Wortbeitrag mit einem Rückblick. Er erklärt, warum seine Partei Anfang des Jahres in die große Koalition gegangen ist und listet dann ein paar Politikfelder auf (Rente, Mieten, Kitas), auf denen die SPD erfolgreich ist. Beziehungsweise erfolgreich sein müsste. Beziehungsweise bald erfolgreich sein will. Dumm für die SPD ist, dass es den Wählerinnen und Wählern seit geraumer Zeit totalabsolutwurscht ist, dass sie eigentlich ganz gute Politik macht.

Andrea Nahles, die SPD-Chefin, hat sich daher etwas Neues ausgedacht: einen Fahrplan bis zur Mitte der Legislaturperiode. Den will man mit der Union abarbeiten und die SPD wird total sauer, wirklich, ernsthaft jetzt, wenn das nicht eingehalten wird. "Was ist denn das Tolle an dem Fahrplan, wo Sie doch schon einen Koalitionsvertrag haben?", will Anne Will wissen und Scholz bleibt eine überzeugende Antwort schuldig.

Bei Kramp-Karrenbauer ist die nüchterne Analyse mit Demut garniert. "Ergebnis kann nicht zufriedenstellen", "Wir haben die Aufgabe, es besser zu machen", solche Sätze sagt sie dann. Nur einmal, bei Minute 53, driftet die CDU-Politikerin für etwa anderthalb Sekunden leicht ins Saarländische, ein Zeichen emotionaler Aufwallung möglicherweise. Sie wundere sich, dass die Frage "erscht jetzt kommt", sagt sie, als sie von Anne Will gefragt wird, ob sie im Dezember beim CDU-Parteitag Angela Merkel als Parteichefin ablösen wolle. Spoiler: Will sie nicht.

Sowohl Politikprofessor Vorländer als auch Spiegel-Journalistin Christiane Hoffmann sind sich einig, dass die CDU mit Merkel an der Spitze vor allem ein "personelles Problem" habe. Wenn Wechsel in der Parteiführung etwas brächten, "wäre die SPD heute bei 50 Prozent", sagt Kramp-Karrenbauer. Mitfühlender Blick zu ihrem Sitznachbar Scholz - viele in der CDU haben ja inzwischen Mitleid mit der immerfort getretenen SPD. "Guter Witz", sagt Scholz und legt Kramp-Karrenbauer fast zärtlich die Hand auf den Arm.

Auf der anderen Seite der Sitzgruppe geht es konfrontativer zu. FDP-Chef Christian Lindner und Grünen-Chef Habeck sitzen dort nebeneinander. Der eine wollte mit seiner Partei nicht in die Bundesregierung, der andere bekam genau deshalb nicht die Gelegenheit. Habeck und Lindner duzen sich, das merkt der Zuschauer nach ein paar Sekunden, und sie zoffen sich.

Als Lindner "Klima-Nationalist" sagt, wird Habeck fuchtig

Vordergründig geht es um Klimapolitik, tatsächlich aber darum, wer was wie über wen gesagt hat. Habeck ist auf Krawall gebürstet, vielleicht ärgert er sich noch immer über ein Interview mit der Bild-Zeitung, die seine Aussagen zur Merkel'schen Flüchtlingspolitik arg zugespitzt, manche sagen verdreht hat. Jetzt muss er sich des Vorwurfs erwehren, er sei allzu "cremig", verfolge also eine inhaltlich dünne Wohlfühlpolitik, die derzeit alle irgendwie gut finden.

Als von Lindner das Wort "Klima-Nationalist" fällt, weil die Grünen angeblich auf rein nationale Maßnahmen gegen die Erderwärmung setzen, wird es Habeck zu viel. "Das ist fachlich falsch", sagt Habeck. "Du hast eine interessengeleitete Erinnerung", sagt Lindner. "Da gehe ich mit zehn Prozent Plus nach Hause und du mit zwei", sagt Habeck. "Robert!" sagt Lindner.

So geht das, rhetorisch gleich geschickt von beiden, ein paar Mal hin und her, nur mühsam im Zaum gehalten von der Moderatorin, die die Sendung ansonsten gut im Griff hat. Der Streit zwischen Habeck und Lindner ist der Höhepunkt der 60 Minuten, jedenfalls vom Unterhaltungswert her. Und das sind Talkshows ja immer auch, Unterhaltung.

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