Süddeutsche Zeitung

Doku auf Sat 1:Die menschliche Merkel

Lesezeit: 2 min

Eine Dokumentation auf Sat 1 über die Kanzlerin wird zum wohlwollenden Blättern im Bilderbuch. Sie ist trotzdem sehenswert.

Von Cornelius Pollmer

Das deutsche Volk durchläuft regelmäßig erstaunliche Blitzumschulungen, bald ist es wieder so weit. Sollte es im Delta- und damit Sorgenherbst weniger gewittern als befürchtet, werden zum Ende der ersten Kanzlerinnenschaft überhaupt in der bundesrepublikanischen Geschichte aus "82 Millionen Bundestrainern" beziehungsweise "82 Millionen Virologen" endlich einmal wieder "82 Millionen Merkel-Kenner".

Einige davon hat Sat. 1 in einem gewohnt großzügigen Casting bereits jetzt zusammengepuzzelt, für 105 Nettominuten Doku über die "Ära Merkel". Neben tatsächlich häufigen Kontaktpersonen der Kanzlerin wie der ehemaligen Ministerin Annette Schavan und dem gegenwärtigen Minister Helge Braun ist das übliche Fernsehquatschbudenpersonal vertreten, von Sophia Thomalla bis zu Stefan Verra, laut Einblendung "Autor und Körperspracheexperte", da ahnt man gleich, wo die Reise hingehen soll.

Sie geht in Richtung Kühlregal, und der Experte Verra führt euphorisch aus, dass das ja wohl ein Ereignis sei - Merkel als Projektion und Gottkanzlerin, die dann aber, plötzlich ganz Mensch, "die Milch gleich holt, wie wir sie holen". Ist es zu fassen, nein, ist sie überhaupt zu fassen, also die Kanzlerin, nicht die Milch?

"Jedenfalls ist sie keine Paniktussi", sagt etwa Gloria von Thurn und Taxis

Ja und nein. Erstes Bild dieser Doku von Produzent Tom Gamlich ist ein Merkel-Mosaik, ein Profil aus unzähligen Fotografien. Diese Optik erinnert an ein reales Wahlplakat Merkels aus dem Jahr 2013, und sie darf auch sonst als Hinweis darauf verstanden werden, dass dieser Film eher freundlich bleiben wird im Grundton. Die ganze Dokumentation gerät zu einem Blättern im Bilderbuch der, nein, unserer Sie-kennen-mich-Kanzlerin. Dieses Blättern beginnt bei Merkels unbezahlbarem Mach-du-nur-Blick in der "Elefantenrunde" des Wahlabends 2005, in der Schröder gewissermaßen kurz vor dem Check-out verbal ganz wunderbar randalierte. Schröder, "kann man so sagen: Er war gut drauf", gibt der Vorzeigerheinländer Wolfgang Bosbach zu Protokoll, und sein Gesicht leuchtet vor Freude noch mehr als sein ja auch schon irgendwie blendendes Sakko.

Es werden wirklich alle Hits aus Merkels Kanzlerschaft gezeigt und kommentiert, auch die charakterlichen Verdachtsmomente, die sich in 16 Jahren im Volk so angesammelt haben. "Jedenfalls ist sie keine Paniktussi", sagt Gloria von Thurn und Taxis über Merkels oft gerühmten Stoizismus. "Es gibt freundschaftsfähige Menschen in der Politik, Angela Merkel gehört dazu", sagt Annette Schavan mit etwas, das nach echter Zuneigung aussieht. "Frau Merkel geht ohne zu reden, und sie geht am liebsten allein", sagt Reinhold Messner, der mit Merkel oft wandern gegangen ist, wobei gerade das "mit" nach diesem Satz Messners einer Revision bedarf.

Ein paar füllende Sätze Bullshit lassen sich in solchen Privatfernsehdokumentationen nie vermeiden (Marc Bator: "Ja schön, Merkel im Supermarkt!"), aber sie überwiegen in diesem Fall nicht, das macht das Ergebnis trotz der wie gesagt sehr großen Grundfreundlichkeit sehenswert. Sehenswert auch, weil einem bewusst wird, dass man als Normaldeutscher von dieser Kanzlerin in 16 Jahren mehr mitbekommen hat als von einem durchschnittlichen Großonkel in der eigenen Familie.

Zu sehen ist Angela Merkel bei der Bewältigung männlicher, menschlicher und sonstiger Krisen seit 2008, als der Dauerstress mit dem Kapitel Banken begann. Immer geht es dem Film dabei um den "Menschen Merkel", eine Synthese im politischen Sinn liefert er nicht. Kaum ein Wort dazu, wie und worin dieses Land durch diese Kanzlerin in den vergangenen Jahren proaktiv gestaltet worden wäre. Nur ist das, so es einen denn stört, weniger den Herstellern dieser Dokumentation vorzuwerfen, als der von ihnen abgebildeten Person der Zeitgeschichte.

"Die Ära Merkel - Gesichter einer Kanzlerin", Dienstag, 20.15 Uhr, Sat 1.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5349419
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.