Süddeutsche Zeitung

Protestkultur in der Ukraine:"Wir können selbst etwas verändern"

Lesezeit: 6 Min.

Seit dem Euromaidan entwickelt sich in der Ukraine eine kreative Protestkultur: Aktivisten wie die Feministin Julia Wynohradowa demonstrieren humorvoll und ideenreich für ihre Vision einer besseren Gesellschaft.

Von Eva Steinlein

Eigentlich hatte Julia Wynohradowa sich sorgfältig vermummt, als sie beim Kiew Pride mit einem feministischen Banner im Straßenumzug mitmarschierte. Rechtsextreme und gewaltbereite orthodoxe Christen, die sich von der Veranstaltung provoziert fühlen, sollten die 31-Jährige nicht erkennen und verfolgen. Aber die Direktorin ihrer Schule in der ukrainischen Provinzstadt Krywyj Rih habe sie in einem Fernsehbericht über den Kiew Pride erkannt und Witze darüber gemacht, sagt die junge Lehrerin. Ihre Verwandten hätten Julia gefragt: "Warum bleibst du nicht einfach zu Hause?" Denn ohne den Umzug, der nur unter dem Schutz von 5000 Polizisten stattfinden kann, gebe es auch keine Angriffe auf Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transmenschen (LGBT) in der Ukraine. Ihnen hat Julia geantwortet: "Wir können dann aufhören zu marschieren, wenn wir keinen Polizeischutz mehr brauchen."

Die Maidan-Demonstrationen ließen eine Protestkultur aufkeimen

Die Aktivistin ist überzeugt: Erst wenn "Menschen nichttraditioneller sexueller Orientierung", wie sie in der Ukraine verschämt genannt werden, sich nicht mehr verstecken, kann sich die negative Einstellung der Mehrheitsgesellschaft zu ihnen ändern. Dazu gehört, dass immer mehr von ihnen auf die Straße gehen, um für gleiche Rechte zu protestieren. "Es war mir immer wichtig, etwas zu machen, das die Gesellschaft verändert", sagt Julia. Deshalb sei sie Lehrerin geworden, und deshalb engagiert sie sich in einem LGBT-Zentrum in ihrer Heimatstadt, nimmt an Workshops und Kundgebungen teil. "Ich habe bemerkt, dass ich im Kleinen etwas bewirken kann", sagt sie.

Welch großen Einfluss Protestaktionen haben können, hat Julia wie so viele Ukrainerinnen und Ukrainer erst während der Euromaidan-Proteste entdeckt. Tausende Bürger protestierten im Winter 2013/2014 auf dem Maidan in Kiew gegen das korrupte System des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch. Julia war damals noch nicht unter ihnen: "Ich dachte, dass Politik nichts mit mir zu tun hat und ich mein Leben führen kann, ohne mich darum zu kümmern." Nach dem Sturz der Regierung, den die Ukrainer im Nachhinein als "Revolution der Würde" bezeichnen, habe sie verstanden: "Wir müssen nicht einfach warten, bis etwas passiert. Wir können selbst etwas verändern."

Das traditionelle Frauenbild wirkt nach

Der gesellschaftliche Wandel ist Julia ein wichtiges Anliegen: Sie ist überzeugte Feministin - und gilt damit vielen in der Ukraine als radikal, als Bedrohung der traditionellen Gesellschaftsordnung: Das Idealbild der ukrainischen Frau ist schließlich die Bereginja, eine Art guter Fee, die sich um Haushalt, Kinder und Ältere kümmert und ihrem Ehemann zuarbeitet, statt eigene Ziele zu verwirklichen.

Dass die meisten Frauen seit der Sowjetunion berufstätig sind und eigenes Geld verdienen, sehen nicht alle als Fortschritt an: "Meine Mutter glaubte, der Feminismus sei daran schuld, dass Frauen arbeiten müssen. Davor hätten sie einfach zu Hause bleiben können", erzählt Julia. Dass auch unbezahlte Tätigkeit im Haushalt Arbeit ist und die Sowjets sich nicht besonders für Emanzipation interessierten, sondern Frauen schlicht als zusätzliche Arbeitskräfte brauchten, habe sie ihr erst erklären müssen.

Der in der Sowjetunion groß gefeierte Weltfrauentag am 8. März, der im Kampf um gleiches Wahlrecht entstand, wird Schulkindern heute als "Tag des Frühlings und der Lieblichkeit" vermittelt. Frauen bekommen dann traditionell Rosen und Süßigkeiten geschenkt. Julia hat veranlasst, dass an diesem Tag an ihrer Schule Filme gezeigt wurden, in denen es um die Rolle der Frau in der Gesellschaft geht. Viele ältere Lehrerinnen seien nicht begeistert gewesen, sagt sie: "Na schön, hieß es, aber danach gehen wir in die Klassen und sagen den Mädchen, wie hübsch sie sind."

"Ich finde nicht, dass die Femen wirklich Feministinnen sind"

Diesem Frauenbild entspricht Julia nicht: Sie trägt einen Kurzhaarschnitt, auf ihren rechten Unterarm ist ein daumenlanges Lambda vor Regenbogenfarben tätowiert, sie ist lesbisch und möchte keine Kinder. Das ist genug, um die ältere Generation an Julias geistiger Gesundheit zweifeln zu lassen. Mit Frauen, die sich auflehnen und für ihre eigene Agenda einstehen, können viele nichts anfangen. Demonstrantinnen werden von den Umstehenden oft mit persönlichen Angriffen auf ihren Platz verwiesen: "Was sagen denn deine Eltern zu diesem Unfug? Schämst du dich nicht?" und "Es wird Zeit, dass du heiratest!", heißt es dann.

Auch die Femen, die im Ausland zeitweise als Paradebeispiel für feministischen Protest in der Ukraine gelten, fanden in ihrem Ursprungsland kaum Resonanz. "Ich finde nicht, dass sie wirklich Feministinnen sind", meint Julia. "Sie bringen der Bewegung nichts Gutes, denn viele Leute, die nichts darüber wissen, denken nun: 'Ach ja, Feministinnen - das sind diese Mädchen, die sich in der Öffentlichkeit nackig machen.'"

Die Abwehrmechanismen gegen selbstbestimmt lebende Frauen sitzen so tief, dass Julia sie selbst in der Schwulen- und Lesben-Community bemerkt hat. Auf dem Banner, dass sie während des Kiew Pride mit anderen Aktivistinnen durch die Straßen getragen hat, stand deshalb: "Wenn ihr Homophobie bekämpfen wollt, dann fangt bei Frauenfeindlichkeit an."

Es war eine Botschaft an die Community selbst - doch um gleiche Rechte zu erkämpfen, müssen Aktivistinnen und Aktivisten die gesamte Gesellschaft erreichen. Ideen für neue Demonstrationsformen schöpft die jüngere Generation auch aus dem Ausland. Die Münchner Künstlerin Naomi Lawrence ist schon mehrmals in die Ukraine gereist, um jungen Aktivistinnen und Aktivisten ihr Konzept namens "Kreativer Protest" beizubringen: Demonstrationen und Protestaktionen sollten demnach friedlich, humorvoll und vor allem positiv in der Botschaft sein. "Beim Kreativen Protest sind die Teilnehmer weniger angreifbar, weil die Aktionen gewaltfrei und konstruktiv sind", erklärt sie. "Immer nur dagegen sein, das ist keine Vision. Ich muss Alternativen aufzeigen!"

Über ihre Workshops in mehreren ukrainischen Provinzstädten hat die Filmproduzentin Liudmila Kirilenko die Dokumentation "Rainbow on Tour" gedreht, benannt nach einem bunten Schirm, den Lawrence mit Aktivisten an Denkmälern in jeder Stadt drapiert hat. Der Regenbogen als Symbol der LGBT-Community ist dort längst nicht allen geläufig - eine subtile Möglichkeit, Flagge zu zeigen. Bei einer anderen Aktion haben Aktivisten ein Pappschild in der Form der Ukraine in den Nationalfarben Gelb und Blau in einem Park aufgehängt. Selbst gewaltbereite Nationalisten mussten sich genau überlegen, ob sie dieses patriotisch anmutende Symbol mit der Aufschrift "Einheit in der Vielfalt" niederreißen.

Stolz statt Angst vor Unterdrückung

Während des Kiew Pride hält Lawrence am Tag vor dem Umzug einen Workshop ab, der die Aktivistinnen und Aktivisten ermutigen soll, selbstsicher für ihre Sache einzustehen. Auch Julia nimmt teil. Die Stimmung ist heiter, an vielen Stellen wird es ulkig - etwa wenn die Künstlerin und ihr Übersetzer sich plötzlich einen Stift zwischen die Zähne klemmen, um die Anwesenden zum Lachen zu animieren. Es klappt - eine kleine Sensation am Abend vor dem Marsch. Jedes Jahr werden dabei Teilnehmer von Rechtsextremen verprügelt.

Am Schluss steht eine Aufgabe: "Beim Marsch sind viele Zuschauer, viele Kameras. Ihr habt die Chance, den Leuten etwas zu sagen! Welche Botschaft wollt ihr übermitteln?", fragt Lawrence. Julia hat ihre Botschaft schnell gefunden: #PROUD pinselt sie in Regenbogenfarben auf das weiße T-Shirt, das sie zum Workshop mitgebracht hat. Stolz auf seine Identität zu sein - das ist auch für Naomi Lawrence die Voraussetzung zum Engagement: "Wenn wir uns als Teil der Gesellschaft sehen, dann können wir nicht nur der arme, unterdrückte Teil sein."

Monstrazija: "Mama, ich bin schw...erhörig!"

Im August will sie ihr Konzept des Kreativen Protests auch beim Odessa Pride vorstellen. Die Schwarzmeerstadt gilt in der Ukraine als Hochburg des Humors - kein Wunder, dass sich hier eine besonders launige Form der Demonstration herausgebildet hat. Auf "Monstrazija" genannten Umzügen tragen junge Aktivistinnen und Aktivisten verschiedenster Gruppierungen Schilder durch die Stadt, deren Slogans sich erst auf den zweiten Blick entschlüsseln lassen. Auch die LGBT-Community mischt mit Wortspielen wie "Mama, ich bin schw... erhörig" oder "Gegen gleichgeschlechtliche Rehe!" mit.

Ob diese spielerische Form der Auflehnung auch dauerhafte Wirkung zeigt? Da ist Julia skeptisch: "Ich glaube nicht, dass die Rechtsextremen es positiv aufnehmen werden. Aber die breite Gesellschaft vielleicht." Auch die Gegner der LGBT-Community haben längst gelernt, ihre Botschaft in Witze zu verpacken. Wenige Tage vor Naomis Workshop umstellt eine Gruppe orthodoxer Christen das Hauptquartier des Kiew Pride, um die Veranstaltungen dort zu blockieren. Auf einem ihrer Banner ist ein Strichmännchen gemalt, das gerade in die Psychiatrie eingeliefert wird: "Meine Geschlechtsidentität lautet Igel!", kreischt es. Der Doktor auf dem Bild weiß Rat: "Bringen Sie den zum 'Napoleon' in die Zelle!"

Viele Protestaktionen verlaufen friedlich - dank Polizeischutz

Die Mehrheit der Rechtsextremen und Orthodoxen setzt aber noch immer auf Gewaltbereitschaft, wie Zusammenstöße mit der Polizei während des Pride-Marschs durch Kiew zeigen. In den Augen der LGBT-Aktivisten diskreditieren sie sich dadurch selbst; denn Hetzjagden und Schlägereien akzeptieren immer weniger Bürger der Ukraine, die sich seit dem Maidan dem Westen nach Kräften demokratisch zeigen wollen.

Julia hat mit kreativen Protestaktionen bislang positive Erfahrungen gemacht: Einmal hat sie im Zentrum von Krywyj Rih mit einer Aktivistengruppe einen jungen Mann postiert und verkündet, er sei schwul. Passanten sollten ihm ein ihrer Meinung nach passendes Etikett anheften - zur Auswahl standen Sprüche wie "Das ist eine Sünde!", "Hau doch ab nach Gayropa!" oder "Das ist keine Krankheit" und "Alles in Ordnung bei ihm". "Am Ende hingen an ihm viel mehr positive als negative Etiketten", erinnert sich Julia. "Das war schön zu sehen."

Die Aktion verlief friedlich - wahrscheinlich, weil ein Polizist bei der Aktivistengruppe Wache stand. Ein paar Passanten rieten Julia ungefragt, sich endlich einen Mann zu suchen und Kinder zu bekommen. In ihrem eigenen Leben wägt sie deshalb ab, wie viel sie von sich preisgibt. Mit ihren Schülerinnen und Schülern im Teenageralter spreche sie "natürlich nicht" über sexuelle Minderheiten, sagt Julia: "Das können sie im Biologieunterricht oder mit der Schulpsychologin besprechen. Es ist nicht meine Aufgabe."

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