Süddeutsche Zeitung

Dem Geheimnis auf der Spur:Das verschwundene Genie

Lesezeit: 4 min

Der Italiener Ettore Majorana galt als brillanter Physiker und wurde sogar mit Galileo und Newton verglichen. Er forschte zur Kernenergie - bis er 1938 spurlos verschwand.

Von Francesca Polistina

Von Ettore Majorana kennt man das Geburtsdatum, nicht aber den Todestag. War es jener 26. März 1938, an dem er einen letzten Brief verschickte? Oder starb der geniale Physiker, der heute eine Legende ist, erst viel später, nach Jahrzehnten im Verborgenen? Genauso unklar sind auch die Umstände seines Todes: Warf er sich von einer Fähre ins Meer, wie die Polizei früher glaubte, ohne allerdings die Leiche zu finden? Oder verstarb er friedlich in hohem Alter in seinem Bett?

Schon zu Lebzeiten war Ettore Majorana ein Rätsel, umso rätselhafter erscheint bis heute sein spurloses Verschwinden. Der italienische Wissenschaftler war ein Einzelgänger, der den Kontakt mit Menschen mied, er galt als verschlossen und zurückhaltend, und innerlich zerrissen. Er war ein brillanter Wissenschaftler, aber einer besonderen Spezies: Der Tragweite seiner außergewöhnlichen Arbeiten war er sich wohl bewusst, deshalb behielt er sie manchmal lieber in der Schublade. Immer wieder mussten seine Kollegen den Perfektionisten überreden, seine Studien zu publizieren. So trug er seine Theorie vom Atomkern angeblich in Rom vor, weigerte sich aber, sie zu veröffentlichen. Wenige Monate später publizierte der deutsche Physiker Werner Heisenberg seine Kerntheorie.

Immer wieder mussten seine Kollegen ihn überreden, seine Studien zu publizieren

Ettore Majorana wurde 1906 auf Sizilien geboren. Wegen seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten im Kopfrechnen galt er als Wunderkind, in der Schule übersprang er eine Klasse. Er studierte zunächst an der ingenieurwissenschaftlichen Fakultät der Universität Rom, dann wechselte er zur Physik und traf dort auf die "Jungen aus der Via Panisperna", wie man sie nannte. Am berühmten Physikinstitut an der Panispernastraße erforschte der spätere Nobelpreisträger Enrico Fermi mit einer Gruppe junger Wissenschaftler die Kernphysik. Majorana war der außergewöhnlichste Student, den Fermi je hatte, er bewunderte den Sizilianer und verglich ihn sogar mit Newton und Galileo. 1934 gelang es der Gruppe, die Eigenschaften langsamer Neutronen aufzuzeigen, was zur Entdeckung der Kernspaltung führte und später zum Bau der ersten Atombombe. Doch zu dem Zeitpunkt war Majorana schon nicht mehr so präsent.

1933 verbrachte er sieben Monate im Ausland, darunter am Leipziger Physikinstitut von Heisenberg, der den Nobelpreis für Physik bekommen hatte und während des Zweiten Weltkriegs an einer deutschen Atombombe arbeiten sollte . Als Majorana im August 1933 nach Rom zurückkam, offenbar auch aus gesundheitlichen Gründen, verhielt er sich laut Leonardo Sciascia, der über den Fall ein Buch schrieb ("Das Verschwinden des Ettore Majorana"), wie ein "erschreckter Mensch": Er verließ das Haus nur selten, noch seltener ließ er sich am Physikinstitut blicken. Was noch auffälliger war, so Sciascia, war, dass Majorana es "sorgfältig vermied, über Physik zu sprechen". Es ist nicht klar, ob er sich in diesen Jahren noch intensiv mit Physik beschäftigte oder ob er sich eher der Philosophie oder anderen Fächern widmete, wie manche vermuten. Sicher sei nur, dass er den Großteil seiner Schriften und Papiere vor seinem Verschwinden zerstörte.

Was beunruhigte Majorana? Genau diese Frage erscheint zentral und lässt die ganze Geschichte, zumindest laut einer gängigen Interpretation, die Züge eines Dramas annehmen. "Unsere Wissenschaft ist schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere Erkenntnis tödlich", sagt der Forscher Möbius in Dürrenmatts Theaterstück "Die Physiker". "Wir müssen unser Wissen zurücknehmen, und ich habe es zurückgenommen", liest man weiter. Hatte auch Majorana seine Erkenntnisse zurückgenommen und sich von ihnen distanziert? Fürchtete er sich vor den Auswirkungen der modernen Physik, vor den Folgen einer Atombombe? Oder litt er eher an psychischen Problemen?

Im Jahr 2011 eröffnete die Staatsanwaltschaft den spektakulären Fall wieder

Kurz vor seinem Verschwinden 1938 hatte Majorana, damals 31 Jahre alt, eine Professur an der Universität von Neapel bekommen. Im März desselben Jahres war er mit der Fähre nach Palermo gefahren, wo er sich ein paar Tage aufgehalten hatte, seine Freunde hatten ihm geraten, eine kurze Auszeit zu nehmen. Doch er kehrte nie zurück. Gefunden wurde Majorana nicht, weder lebendig noch tot. Die Hypothesen über sein Schicksal häuften sich im Lauf der Zeit - und wurden immer fantastischer.

Einige, wie die Polizei, dachten, dass der Physiker auf dem Weg zurück nach Neapel Suizid begangen hatte, obwohl er kurz davor sein ganzes Geld von der Bank abgehoben haben soll - wieso sollte jemand das machen, wenn er sich umbringen will? Seine Familie glaubte, dass er sich in ein süditalienisches Kloster zurückgezogen hatte. Andere wiederum behaupteten, dass er nach Deutschland zurückgekehrt war, um für die Nazis zu arbeiten. Über die Bewunderung Majoranas für das "effiziente" Deutschland, wie er das Land nach seinem dortigen Aufenthalt beschrieb, ist einiges geschrieben worden, aber einen verlässlichen Beweis, dass er für das NS-Regime arbeitete, gibt es nicht.

Manche glaubten auch, dass er noch bis in die Siebzigerjahre als Obdachloser auf Sizilien lebte. Andere neigten zur Südamerika-These, die auch in jüngster Zeit noch vertreten wurde. Demnach soll Majorana zunächst nach Argentinien und dann nach Venezuela ausgewandert sein, es gibt sogar Menschen, die versichern, ihn dort unter einem anderen Namen kennengelernt zu haben. Auch die Staatsanwaltschaft von Rom, die 2011 den Fall wiedereröffnete und ihn vier Jahre später doch wieder zu den Akten legte, vermutet, dass Majorana zumindest in den Fünfzigerjahren in Venezuela gelebt hat. Was sie allerdings nicht beantworten kann, ist nach wie vor die fundamentale Frage: Warum verschwand das Genie überhaupt? Giorgio Parisi, einer der drei diesjährigen Physik-Nobelpreisträger, schrieb einmal über Majorana: "Wenn man an die ganze Geschichte zurückdenkt, bleibt ein bitterer Nachgeschmack, wenn man bedenkt, was das für ein Verlust für die Physik war."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5433720
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.