Süddeutsche Zeitung

Letzter DDR-Innenminister:Anwalt der Ossis

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Peter-Michael Diestel war als letzter Innenminister der DDR eine schillernde Figur - heute kritisiert er die westdeutschen Eliten für ihre Ignoranz.

Von Christian Mayer

Man fährt über weites, flaches Land, vorbei an gewaltigen Windrädern, Richtung Mecklenburger Seenplatte. Wer Peter-Michael Diestel besucht, freut sich, wenn das Navi funktioniert und einen sicher nach Adamshoffnung leitet. Einen Ort weiter, in Zislow, besitzt der Rechtsanwalt einen alten Gutshof, er nimmt am Küchentisch Platz. Zeit für Erzählungen aus jener wilden Phase nach dem Mauerfall, in der das Unmögliche Wirklichkeit wurde. Zum Beispiel ein DDR-Innenminister, der mal Bademeister, Türsteher, Melker, Rinderzüchter, Bodybuilder und noch so einiges mehr war, in seinen eigenen Worten: "ein freundlicher Anarchist, der keine Bomben wirft".

Diestel ist ein dem schönen Leben zugewandter und in dritter Ehe verheirateter Mann von 67 Jahren, der deutlich jünger wirkt. "Es geht mir sehr gut", sagt er, und was die Hanteln angeht: Die stemmt er noch immer, morgens im eigenen Fitnessraum. Früher hat der begeisterte Jäger die Hirsche eigenhändig auf die Ladefläche seines Transporters gehievt, darauf verzichtet er jetzt lieber, die Bandscheibe.

Der CDU-Politiker hat ein Erinnerungsbuch geschrieben, das im Titel die ganze Widersprüchlichkeit seiner Karriere trägt: "In der DDR war ich glücklich. Trotzdem kämpfe ich für die Einheit" (Verlag Das Neue Berlin). Damit tourt er durch den Osten der Republik, in Halle kamen gerade 650 Zuhörer, in Leipzig war der Saal gerammelt voll, das Buch steht auf der Spiegel-Bestseller-Liste. Was will man mehr?

Diestel will vor allem Verständnis. Für sich selbst, aber auch für die Menschen im Osten, die seiner Partei scharenweise davonlaufen, wie die Landtagswahl in Thüringen gezeigt hat. Sein Befund: Die Westdeutschen haben nach 1989 den Osten systematisch klein gemacht, sie haben den Menschen ihre Identität genommen und sie als Bürger zweiter Klasse behandelt. Für Diestel ist das der Hauptgrund, warum die AfD, die für ihn ein "Westprodukt" und ein Ergebnis der "kollektiven Enttäuschung" ist, von Erfolg zu Erfolg eilt. Dabei hätten doch die Ostdeutschen die Mauer eingerissen und "die deutsche Einheit für sich erstritten". Doch wo bleibt die Anerkennung? Heute gebe es so gut wie keine ostdeutschen Botschafter, Bundeswehrgeneräle, Uni-Professoren. Die höheren Beamten in den Landesministerien, die Staatsanwälte und Richter: überwiegend Westdeutsche. "Verstehen Sie mich nicht falsch, da sind tolle Leute dabei, aber das ist eine Einbahnstraße. Stellen Sie sich nur mal vor, in Ihrem schönen Bayern würden lauter Sachsen und Brandenburger regieren."

Nach einer Stunde springt Diestel vom Tisch auf. Hinten in einem Nebengebäude geht's unter einem Holzkreuz ins Arbeitszimmer, das überall mit Hirschgeweihen dekoriert ist. Diestel sammelt nicht nur selbsterlegte Trophäen, an den Wänden hängen zahlreiche Kunstwerke, darunter das Aktgemälde einer rothaarigen Schönheit, mit dem der Maler Harald K. Schulze bei einer der letzten DDR-Kunstausstellungen Anstoß erregte. Mitten im Holzverschlag steht eine Büste Josef Stalins, ein Geschenk des sowjetischen Botschafters in der DDR. Mit schnellen Tritten steigt der Hausherr auf den Hochsitz im Garten, wo er im Juni 2017 traurig auf die Felder schaute: Das war, als die Nachricht vom Tod Helmut Kohls kam, mit dem Diestel in besseren Tagen häufiger telefonierte, wobei die Rollenverteilung klar definiert war.

Keine Frage: So richtig zu packen ist er nicht, dieser Peter-Michael Diestel, der sich "eher rechts in der CDU" verortet, mit Gregor Gysi und Egon Krenz Kontakt hält und für den Sozialdemokraten Egon Bahr noch immer große Bewunderung hegt.

Sein Unwillen, sich von der DDR-Vergangenheit entschieden abzugrenzen, hat seinem Ruf im Westen geschadet

Man kann sich vorstellen, wie der Sohn eines NVA-Offiziers, der sich in der DDR der Jugendweihe verweigert hatte, an die zweite Stelle eines untergehenden Staates kam. Ein impulsiver Draufgänger, der sich nicht immer an die Regeln hielt. Im Buch kann man seinen Blitzstart nachvollziehen: Wie er, der Anwalt und Christ, den Pfarrer der Leipziger Thomaskirche, Hans-Wilhelm Ebeling, traf, mit dem er die Deutsche Soziale Union (DSU) gründete, die er bald wieder verließ. Wie er mit Unterstützung der CSU Wahlkampf führte und als Vertreter "der einzigen 'reinen' konservativen Kraft" in der DDR von Bonner Politprofis hofiert wurde. Wie Diestel für die "Allianz für Deutschland" an der Seite von Helmut Kohl Wahlkampf machte, nach der Volkskammerwahl am 18. März 1990 stellvertretender Ministerpräsident der DDR wurde und im Dienstwagen von Erich Honecker durch den Osten raste.

"Ich war ja gar kein Politiker, aber hatte ein klares Ziel: die deutsche Einheit", erzählt er über die Wendemonate, als so mancher Politneuling über seine Vergangenheit stolperte. Diestel trug, anders als die Pfarrer und Bürgerrechtler an den runden Tischen, keinen Bart, dafür aber ein auffälliges weißes Sakko. Bei ihm gab es keine Stasi-Vergangenheit, die über Nacht ans Licht kommen konnte; allerdings stand er als Innenminister bald schwer in der Kritik, als er frühere Stasi-Offiziere nicht feuerte, sondern weiterbeschäftigte. Ihm sei es allein um eine "gewaltfreie Auflösung der Stasi" gegangen. Der Kontakt zu hochrangigen Geheimnisträgern des Ministeriums für Staatssicherheit war hilfreich, als es um die Enttarnung der in der DDR untergetauchten RAF-Terroristen ging - bei einer spektakulären Pressekonferenz konnte Diestel die Festnahmen verkünden.

Sein Unwillen, sich von der DDR-Vergangenheit entschieden abzugrenzen, hat seinem Ruf im Westen geschadet. Das weiß er selbst. Zu den offiziellen Feiern zur deutschen Einheit sei er noch nie eingeladen worden. Im Osten erfreut sich der frühere Präsident des Fußballvereins Hansa Rostock dagegen großer Beliebtheit, wie ein Auftritt im MDR-"Riverboat" im September zeigte: Da gab es tosenden Beifall, als Diestel über die Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer lästerte, die "noch nie 'nen Schuss gehört" habe. Mitten in der Sendung klingelte sein Handy - mit der DDR-Hymne als Melodie, die ihn daran erinnert, "woher ich komme". In der Sendung verblüffte er die Moderatoren mit einer Selbsteinschätzung, die man wahlweise als Selbstkritik oder als Übermut deuten kann: "Meine Arroganz, meine Überheblichkeit und mein Drang, erfolgreich zu sein", das habe ihm schon 1990 geholfen.

"Wir haben das größte Glück erlebt, das ein Volk erleben kann - die Einheit", sagte Diestel im "Riverboat". Nach einer guten Flasche Rotwein wiederholt er den Satz auch zu Hause in Zislow. Und klingt dabei dann doch ganz versöhnlich.

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Quelle:
SZ vom 09.11.2019
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