Süddeutsche Zeitung

Häusliche Gewalt in Russland:"Er schlägt mich, also liebt er mich"

Lesezeit: 5 min

Von Eva Steinlein

"Das erste Mal warf er mich unter den Augen von drei Leuten gegen die Wand, er packte mich am Hals und begann mich zu würgen. Ein Mann versuchte, ihn von mir wegzureißen - er bekam eine ins Gesicht." In nüchterner Wortwahl schildert die Russin Anna Weduta auf Facebook, dass es bei dem einen Mal nicht geblieben ist.

Der Text der jungen Frau von Ende vergangenen Jahres erregt derzeit noch einmal große Aufmerksamkeit in Russland. Die Staatsduma hat vor wenigen Tagen ein Gesetz verabschiedet, das Prügel in häuslichen Lebensgemeinschaften vom Vergehen zu einer einfachen Ordnungswidrigkeit herabstuft. Vorausgesetzt, der Aggressor schlägt nur einmal zu und das Opfer trägt keinen gesundheitlichen Schaden davon. Schläge wie eine Ohrfeige oder eine Kopfnuss sind damit faktisch entkriminalisiert. Allenfalls eine Geldstrafe oder Sozialstunden könnten dafür noch fällig werden.

12 000 Frauen sterben in Russland jährlich an den Folgen häuslicher Gewalt

Vergleichbare Übergriffe außerhalb der Familie werden bereits seit Sommer 2016 nur noch als Ordnungswidrigkeit verfolgt. Dadurch ist eine Schieflage entstanden. Der Gesetzgeber gehe davon aus, "die eigene Mutter sei für ihr Kind gefährlicher als fremde Typen", befand die Duma-Abgeordnete Olga Batalina und brachte die Ausdehnung des Gesetzes auf Vorfälle "unter nahen Verwandten" auf den Weg. 84 Prozent der Abgeordneten stimmten ihr zu, drei waren dagegen. Von den Bürgerinnen und Bürgern fanden fast 60 Prozent den Gesetzentwurf richtig - so besagen es jedenfalls Zahlen, die das staatliche Meinungsforschungszentrum WZIOM veröffentlicht hat.

Dass viele Russen häusliche Gewalt aus ihrem eigenen Leben kennen, zeigen die zahlreichen Kommentare unter dem Facebook-Beitrag von Anna Weduta. "Psychischer Druck, deine Freundinnen sind dumm und neidisch, Isolation - das kenne ich alles nur zu gut. Anna, danke, dass du das geschrieben hast!", schreibt eine junge Frau. Eine andere: "Ich habe selbst starke psychische Aggression in der Familie erlebt. Ich dachte, dass ich an allem schuld bin." Nach Anna Weduta brechen viele andere Frauen ihr Schweigen, um gegen die Bagatellisierung von Gewalt zu protestieren.

Wie in den meisten Ländern der Welt ist Gewalt in der Familie auch in Russland etwas, das überwiegend Männer ausüben und überwiegend Frauen und Minderjährige erleiden. Vierzig Prozent aller schweren Gewaltverbrechen finden innerhalb der Familie statt. Nach Zahlen des Innenministeriums sterben 12 000 Frauen jährlich an den Folgen häuslicher Gewalt. Durchschnittlich eine Frau alle vierzig Minuten. 36 000 Frauen pro Tag werden von ihrem Mann verprügelt, das sind mehr als 13 Millionen Fälle im Jahr.

Zur Rechenschaft gezogen werden die Täter selten: Aktivisten schätzen, dass nur ein Viertel aller Vorfälle überhaupt angezeigt wird, ein Bruchteil davon landet vor Gericht. Dabei spielt nicht nur Angst vor den Folgen einer Anzeige und Abhängigkeit vom Aggressor eine Rolle. "Er schlägt mich, also liebt er mich" heißt ein russisches Sprichwort. Ein Satz, der Gewalt mit Aufmerksamkeit und körperliche Übergriffe mit Zuwendung gleichsetzt. Dass starke Gefühle einander ähneln und Triebe wie Leidenschaft und Brutalität auch ineinander übergehen können, ist im Weltbild vieler Russen fest verankert.

Putin selbst hatte sich gegen Schläge zur Erziehung ausgesprochen

Vor diesem Hintergrund ist auch das wichtigste Argument der Befürworter des neuen Gesetzes zu erklären: Die Reform ziele auf den Schutz und Erhalt der Familie ab. Schließlich wollten auch die Opfer oft nicht, dass der Täter nach dem bislang geltenden Recht bestraft werden. Je nach Schwere der erlittenen Schäden sind dafür Haftstrafen von mehreren Jahren vorgesehen. Kein Kind könne wollen, dass sein Vater im Gefängnis sitzt, weil er es einmal geschlagen hat, heißt es. Diese Sichtweise traut nicht nur Kleinkindern ein entwickeltes Gerechtigkeitsempfinden zu, das sie nicht haben, sondern lässt auch ihre völlige natürliche Abhängigkeit von den Eltern außer Acht.

Der russische Präsident Wladimir Putin selbst hatte auf seiner jährlichen Pressekonferenz noch gesagt: "Kinder sind von den Erwachsenen völlig abhängig. Es gibt viele andere Mittel zur Erziehung ohne jegliche Klapse." Trotzdem rief er die Abgeordneten vor der Abstimmung dazu auf, den Antrag zu unterstützen. Nun wird ihm der beschlossene Gesetzentwurf zur Unterzeichnung vorgelegt.

Im Familienleben gelten ohnehin besondere Regeln, da sind sich Befürworter wie Gegner der Gesetzesreform einig. Die Beziehung zwischen Blutsverwandten gilt in Russland als heilig und muss geschützt werden. Sie muss ein Leben lang Schutz bieten in einer Gesellschaft, in der staatliche Absicherung nicht genug zum Überleben bietet und behördliche Hilfen oft versagen.

Dass Schläge als Erziehungsmaßnahme geduldet werden, hat in Russland eine lange Tradition. "Liebst du deinen Sohn, so bringe ihm häufig Wunden bei - und lobe ihn nicht danach. Strafe deinen Sohn von Jugend an und du wirst dich an ihm freuen in seiner Reife, unter deinen Freunden kannst du dich seiner rühmen, und deine Feinde werden dich beneiden", heißt es schon im Domostroj, einem Gesetzeskodex aus dem 16. Jahrhundert, der bis ins 19. Jahrhundert im russischen Zarenreich maßgeblich war.

Erst 1903 wurden schwere Gewalttaten gegen die Eltern oder nahe Verwandte unter verschärfte Strafe gestellt, nach der Oktoberrevolution 1917 strichen die Bolschewiki den Passus wieder. Zu Zeiten der Sowjetunion wurde häusliche Gewalt als solche kaum verfolgt und Übergriffe meist dem Alkohol oder einem "unsowjetischen" Lebenswandel des Angreifers zugeschrieben. Bis heute gibt es in Russland kein eigenes Gesetz gegen häusliche Gewalt. Verfolgt wird sie bislang anhand mehrerer Artikel des Strafgesetzbuchs.

Gesetze, die das häusliche Zusammenleben regeln, sorgen in der russischen Gesellschaft eher für Unmut: Der Staat, meinen Kritiker, sollte sich in Familiengefüge nicht einmischen. Andere ziehen sich auf die Position zurück, die jüngste Rechtsreform ändere wenig an der gesellschaftlichen Praxis: Wer früher zugeschlagen habe, werde das auch weiter tun. Und wer nicht aggressiv werde, sei von dem Gesetz ja gar nicht betroffen. So fasst ein Psychologe im Gespräch mit der staatlichen Nachrichtenagentur Tass seine Einschätzung zusammen.

"Wir wollen doch wohl nicht, dass es bei uns wird wie in Deutschland"

Unter konservativen Russinnen und Russen ist die Angst vor einer Überregulierung groß. "Wir wollen doch wohl nicht, dass es bei uns wird wie in Deutschland: Wenn jemand auf der Straße sieht, wie eine Mutter ihren Sohn ohrfeigt, weil er zum Beispiel das Telefon seiner Lehrerin geklaut hat, kommt das Kind danach ins Heim. Wir sind mehr daran interessiert, dass das Kind nicht zum Dieb heranwächst", sagt Anna Kislitschenko der Nachrichtenagentur Tass. Kislitschenko betreibt ein Nachrichtenportal namens "Weidenröschen" mit Themenkategorien wie "Traditionelle Familienwerte", auf dem vor allem Positionen der russisch-orthodoxen Kirche zu lesen sind.

Nach deren Lehre ist der Mann das Oberhaupt der Familie, dem Frau und Kinder zu folgen haben. Seinen Anspruch als Hausherr durchzusetzen, ist aus kirchlicher Sicht weniger verwerflich, als sich ihm gegenüber "provokativ" zu verhalten. Viele Frauen suchen deshalb die Schuld bei sich oder werden sogar von ihren eigenen Eltern aufgefordert, sich mit ihrem gewalttätigen Partner zu arrangieren. Auf der Suche nach Ursachen von Gewalt machen es sich viele zu einfach: "Ein normaler Mensch", der eine glückliche Kindheit gehabt habe und nicht unter psychischen Problemen leide, mache so etwas doch einfach nicht, heißt es in vielen Diskussionsbeiträgen.

Im größten Land der Welt gibt es 21 Krisenzentren für Frauen und zwei für Männer

So kommt es, dass es bislang kaum Präventionsarbeit gibt: Ein Bericht des Gesundheitsausschusses der Staatsduma weist für das Jahr 2012 gerade 3147 soziale Einrichtungen für Familien aus. Im größten Land der Welt gibt es demzufolge 21 Krisenzentren für Frauen und zwei für Männer. Nichtstaatliche Organisationen haben es durch staatliche Regulierung schwer, die Betroffenen zu erreichen: Das Informationszentrum "Anna" für Opfer häuslicher Gewalt ist etwa wegen finanzieller Zuwendungen aus dem Ausland gerade zum "ausländischen Agenten" erklärt worden, was für Hilfsorganisationen die gesellschaftliche Ächtung bedeuten kann.

Dass Anna Weduta ihrer Beziehung zu einem gewalttätigen Partner entkommen ist, verdankt sie einer solchen Organisation: Das Projekt "Nasiliu.net" (Keine Gewalt) klärt über häusliche Gewalt auf und weist Betroffenen den Weg, wo sie Hilfe finden können. "Wenn ich früher von alledem gewusst hätte, hätte ich vieles verhindern können," schreibt sie in ihrem Facebook-Beitrag. "Was, wenn es vielen jungen Frauen so geht? Ich fasse zusammen. Schweigt nicht. Sucht euch sofort Hilfe. Seid nicht wie ich - verschwendet nicht Jahre eures Lebens damit."

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