Süddeutsche Zeitung

Ausstellung:Ich esse und fotografiere, also bin ich

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Kaum etwas wird so häufig fotografiert wie Essen. Dass es Menschen dabei um viel mehr geht als das Protokollieren ihrer Nahrungsaufnahme, zeigt eine Berliner Ausstellung.

Von Renate Meinhof

Der Apfel muss am Anfang stehen. Schließlich spielt er bei der Frage, wie dem Menschen beim Essen die Augen geöffnet werden, wie er zur Erkenntnis von Gut und Böse gelangt, die entscheidende Rolle. Jedenfalls, wenn man die Paradieserzählung des Alten Testaments in den Blick nimmt. Das Essen der verbotenen Frucht führt ja dazu, dass der Mensch die grundlegende Fähigkeit erlangt, weise wie Gott, im Leben immer wieder entscheiden zu können, was ihm nützlich ist, und was zum Schaden gereicht. Wer das nicht lernt, hat ein Problem. Dann geht es beim Apfelessen also schlicht ums Überleben? Macht Essen etwa weise? Oder ist es Sünde? Nach dem Kauen des Apfels jedenfalls ist das Paradies verschlossen, der Rest der Welt aber offen. Der Apfel - er gibt Rätsel auf.

Verträgt Apfelkuchen eine religiöse Überhöhung? In der amerikanischen Werbung schon

Das geht einem durch den Kopf, wenn man vor Victor Kepplers Fotografie von 1947 steht. Ein großes Strahlen geht von ihr aus. An den klaren Farben liegt das, vor allem aber an dem Tortenkranz, der wie ein Heiligenschein um einen Apfel gelegt ist, der noch am Baum hängt. Für den Tortenkranz ist das Bild auch nur gemacht worden - es stammt, ganz banal, aus einer Anzeigenkampagne von General Mills, und geworben wird für "Apple Pyequick", eine Backmischung. Ob Keppler die religiös-anthropologische Dimension seines bekränzten Apfels bewusst war? Ob er genau damit gespielt hat? Ging es ihm um die Überhöhung des amerikanischen Apfelkuchens?

Auf anregende Gedanken kommt man in der Ausstellung "Food for the Eyes", die das C/O Berlin im Amerika Haus am Berliner Bahnhof Zoo präsentiert. Thema ist die "Geschichte des Essens in der Fotografie". Wie sich der Blick auf Nahrungsmittel, auf Essensrituale verändert hat - das erlebt man hier. Werke aus dem Fotojournalismus, der bildenden Kunst, der Mode und Werbung sind zu sehen. Und historische Kochbücher natürlich, die ja immer auch Zeugnisse früherer Tischkulturen und der Rollenverteilung der Geschlechter sind.

Der Gang durch zwei Jahrhunderte ist in drei Kapitel aufgeteilt: Vom Stillleben geht es über die Tischrunde (Around the Table) zur reinen Inszenierung des Essens (Playing with Food). Werke des Japaners Nobuyoshi Araki oder des Schweizer Künstlerduos Peter Fischli und David Weiss sind hier zu sehen, genauso wie Arbeiten der Amerikaner Nan Goldin, Cindy Sherman und Martin Parr, um nur einige zu nennen.

Essen ist heute das vielleicht meistfotografierte Sujet überhaupt. Jeder kann das beobachten. An vielen Tischen im Restaurant wird ein Gericht erst mal fotografiert, damit der Freundeskreis auf Instagram oder sonstwo im Netz teilhaben kann. Es geht dabei längst um mehr als um die bloße Dokumentation von Erlebnissen, die öffentliche Bewunderung für eine Inszenierung. Es geht auch um die Suche nach Identität, wie Ernährungspsychologen sagen. Essen ist ja trotz aller Öffentlichkeit eine intime Angelegenheit. In einer Gesellschaft, in der Einzelne sich immer einsamer fühlen, sind sogenannte Foodfamilien entstanden, wie soziale Anker. Ob es nun um Low-carb-Prediger oder Pasta-Fans geht. Der "digitale Fußabdruck" zementiert die Zugehörigkeit. Ich esse (und fotografiere), also bin ich. Schon unter so vagen Trends wie #cleaneating finden sich gut 30 Millionen Bilder, von der Avocado-Bowl mit Granatapfel-Topping bis zum Spinat-Smoothie.

Der Mensch macht Schweine aus Zuckerguss und vermenschlicht Tiere. Am Ende isst er alles auf

Was seltsam klingt, ist ja gar nicht so neu. Essen war immer schon ein soziales Geschehen, über das man sprach, das hat die Tafelrunde mit dem Austausch über "Foodporn" auf Instagram gemein. Dass die Ausstellung eigene Erfahrungen berührt, sieht man schon an den vielen Menschen, die sich lächelnd und tuschelnd an einem Freitag durch die Räume schieben.

Es macht Freude, die Stillleben-Fotografien der Jahrhunderte miteinander zu vergleichen. Da sind die frühen Fotografen des 19. Jahrhunderts, die sich noch stark an den Traditionen der Malerei orientieren, an der Symbolik der Früchte, den Blumen und Arrangements. Aber auch Frederick G. Tutton steht klar noch in dieser Nähe. "Nachtisch" heißt sein Werk von 1925, das insofern irritiert, als dass das Messer nicht im Apfel oder Pfirsich, sondern in einer - damals noch exotischen - Orange steckt, die doch besser mit der Hand geteilt wird.

Tutton wiederum mit Wolfgang Tillmans' Sommer-Stillleben von 1995 zu vergleichen, ist auch ein Gewinn, denn bei Tillmans wirkt alles beiläufig, zufällig, ist aber, bei scharfem Hinsehen, nicht weniger arrangiert. Das Feuerzeug, der Früchteteller, der auf einer Zeitung steht, von der nur die "vegetarische" Schlagzeile zu lesen ist: "Experiment in Green". Und rechts oben wartet im Plastebecher eine Pflanze auf Beute. Sie frisst Fleisch - eine ironische Kollision unterschiedlicher (Über-)lebenswelten.

Bilder von Essen servierten lange die Botschaft mit: Eine Frau gehört in die Küche!

Ähnlich liebevoll entlarvend sind die Arbeiten von Martin Parr. Wenn er pinkfarbene Petit Fours in Schweineform auf ein Golddeckchen mit wunderbarem Lichtspiel bannt, dann schenkt er ihnen eine schräge Bühne. Der Mensch überhöht seine Nahrung, verniedlicht Zucker in Tierform, während er die Tiere vermenschlicht - und trotzdem isst. Detailversessen ist das alles, voller kleiner Zeichen, und doch ist es am Ende nur etwas Süßes. Die eigenwillige Schönheit von Essen sieht man auch an Irving Penns Skulpturen gefrorener Lebensmittel, die er genau in dem Moment aufnimmt, in dem die Farben wieder zu sich kommen, bloßgelegt sind im ersten Tauen, eine Erinnerung an Sommer und Wärme.

Vor allem aber gibt Foodfotografie Auskunft darüber, wer wir Menschen sein wollen, auch im Umgang miteinander. Das zeigt der historisch interessante Teil "Around the Table". Da sind die Kuchen-Tische von Kindergeburtstagen. Oder Picknick-Fotografien, wie Henri Cartier-Bressons "Am Ufer der Marne" von 1938, ein Werk, das selbst zur Ikone geworden ist. Da ist aber vor allem die Arbeit eines unbekannten Fotografen von 1960, das zwei schwarze Studenten in einem Lokal in North Carolina an einer Theke zeigt. Hier läuft es nach Rassen getrennt. Zwei Frauen sitzen ihnen gegenüber, weiß beide, die eine raucht. Sie weigern sich, so steht es dabei, die Männer zu bedienen. Die aber bleiben einfach sitzen, neben sich Messer und Gabel. Sie lesen, nähren den Geist, bleibt der Magen auch leer. Spannung liegt in der Szene. Es ist vielleicht eines der stärksten Fotos gegen Rassismus und Ausgrenzung.

Unbedingt sollte man sich auch sechs Minuten Zeit nehmen, um Martha Roslers Video "Semiotik der Küche" von 1975 anzuschauen. Lebensmittel sind hier gar nicht zu sehen, nur Küchengeräte, die von einer jungen, todernsten Frau der Reihe nach vorgestellt werden. Hackmesser, Schneebesen, Messer, Schüssel. Von Gerät zu Gerät wird die Vorführerin in der Bewegung aggressiver, aber ohne eine Miene zu verziehen. Diese Frau will mit Kochen absolut nichts zu tun haben, und schnell ahnt man, dass sie mit ihrem Messer auch morden würde. Das Video ist eine Parodie auf die Kochsendungen, die damals populär wurden, ein Protest gegen die Vorstellung, dass nur die Frau in die Küche gehöre.

So ist "Food for the Eyes" auch ein schönes Kaleidoskop menschlicher Befindlichkeiten. Was leider fehlt, ist der Blick nach Ostdeutschland, nach Osteuropa. Das könnte ja ein Thema sein: Den Fotografen nachzuspüren, die es verstanden, den Mangel zu kaschieren, oder, um im Bild zu bleiben: Die aus Äpfeln Bananen machten.

Food for the Eyes , noch bis zum 7. September im Amerika Haus Berlin, Hardenbergstraße 22-24.

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Quelle:
SZ vom 22.06.2019
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