Süddeutsche Zeitung

Interview:"Der Gruppeneffekt hält lange an"

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Warum Klassenfahrten wichtiger denn je sind, erklärt Martin Bujard, stellvertretender Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung.

Von Ann-Kathrin Eckardt

Wie hoch sind die Belastungen von Kindern, Jugendlichen und Eltern in der Corona-Pandemie tatsächlich? In einer groß angelegten repräsentativen Studie hat das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung im Juli Antworten auf diese Frage geliefert. Ein Viertel der Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 19 Jahren wies demnach laut einer etablierten Selbsteinschätzungsskala deutliche depressive Symptome auf. 2019 betraf das lediglich zehn Prozent dieser Altersgruppe. Mit Blick auf die Studienergebnisse hat sich Martin Bujard, stellvertretender Direktor des Instituts, danach ein Thema noch einmal genauer angeschaut: Klassenfahrten.

SZ: Herr Bujard, was waren zentrale Erkenntnisse Ihrer Studie?

Martin Bujard: Die auffälligsten Befunde waren: Die psychischen Belastungen sind bei Kindern und Jugendlichen wesentlich gravierender als bei Erwachsenen. Besonders Mädchen und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind betroffen.

Wie erklärt sich das?

Mädchen brauchen die sozialen Kontakte zu Gleichaltrigen besonders stark, die monatelangen Schulschließungen haben Spuren hinterlassen. Und bei Familien mit Migrationshintergrund spielt die oft beengte Wohnsituation eine Rolle, aber auch, dass die Familien, je nach Deutschkenntnissen, oft weniger Zugang zu Informationen haben, etwa zu Angeboten für Kinder in der Pandemie oder der Gesundheitsversorgung. Was den Vergleich mit den Erwachsenen angeht: Die haben bereits Erfahrung damit, wie man über Distanz Kontakt hält. Auch waren Kinder und Jugendliche stärker isoliert. Viele sind es trotz Rückkehr in die Schulen immer noch, haben sich das Alleinsein richtig angewöhnt. Das lässt sich nicht einfach per Knopfdruck wieder ändern.

Und deshalb sind Klassenfahrten jetzt so wichtig?

Ja, für manche mag das vielleicht nach einem Randaspekt des ganzen Schulthemas klingen, aber das ist es nicht. Im Gegenteil! Klassenfahrten sind ein niedrigschwelliges Angebot für Schüler, endlich mal wieder rauszukommen, Dinge ohne die Eltern zu erleben, mit Gleichaltrigen in intensiven Kontakt zu kommen, Sozialkompetenzen zu schulen. Und noch ein wichtiger Punkt: Klassenfahrten fangen soziale Ungleichheiten auf. Nicht wenige Kinder haben ihren Heimatort in den vergangenen eineinhalb Jahren ja kaum verlassen.

In NRW hat Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) betont, dass die Schulen sorgfältig abwägen sollten, ob es sinnvoll sei, für Klassenfahrten Unterricht ausfallen zu lassen wegen der Corona-bedingten Lernrückstände.

Das halte ich für eine völlig falsche Priorisierung. Lernrückstände und die psychische Belastung hängen ja oft zusammen. Wer belastet ist, kann nicht gut lernen. Schlechte Lernerfolge wiederum verstärken die psychischen Probleme dann noch weiter. Eine Woche Unterricht ausfallen zu lassen und zusammen wegzufahren ist deshalb gerade jetzt eine sehr gute Investition, noch dazu eine sehr nachhaltige. Der Gruppeneffekt einer Klassenfahrt hält lange an.

Die Regelungen in den Bundesländern sind dazu bislang sehr unterschiedlich.

Stimmt, noch dazu wurden sie ständig geändert, das hat Lehrer und Eltern verunsichert. Es ist wichtig, dass vor allem Politiker jetzt erkennen: Klassenfahrten sind ein sehr, sehr hohes Gut. Sie müssen jetzt schnell vernünftige und möglichst einheitliche Rahmenbedingungen dafür schaffen.

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