Süddeutsche Zeitung

NS-Zwangsarbeiter:"Plötzlich war er Kriegsgefangener und Verräter"

Lesezeit: 3 min

Das spätere Leben vieler ehemaliger Zwangsarbeiter aus der NS-Zeit eint, dass sie wenig erzählten. Doch was wissen die Nachfahren? Zu Besuch bei Familie Eicher Clere.

Von Alex Rühle und Alessandra Schellnegger

Die Geschichte von Albino Eicher Clere (* 19.03.1922 in San Pietro di Cadore, Venezien, + 17.02.1987 in Costalta, Venetien. Erzählt von seinem Sohn Lucio Eicher Clere:

Draußen, auf dem kleinen Platz vor seiner Bäckerei, feiern die Dorfbewohner einen Freiluft-Gottesdienst. Am 4. November ist "Giorno dell'Unità Nazionale" und "Giornata delle Forze Armate", also Tag der nationalen Einheit und Tag der Wehrkräfte. Einige haben sich in Montur geworfen, sie tragen ihre Gebirgsjägerkluft, an den Hüten stecken lange Federn. Lucio Clere Eicher steht am Ofen und schaut verwundert nach draußen.

"Die feiern tatsächlich die ,Victoria', den ,Sieg' von 1918 ... Also, wenn ich Pfarrer wäre, ich würde sämtliche militärische Symbolik in der Kirche verbieten."

Dabei knetet er Teig und zieht eine alte Metallform hervor, die sein Vater ab und zu verwendet hat, um damit ein Muster in sein Brot zu stanzen. Sein Vater hat diese Form vor Jahrzehnten von einem Freund bekommen, der sie selbst hergestellt hatte. Hmm, als deutscher Besucher hat man sofort eine eindeutige Assoziation.

"Oh, dafür muss man nicht Deutscher sein, das ist ein Hakenkreuz, der Freund war überzeugter Faschist", sagt Eicher Clere. "Aber mein Vater hat das nicht so ernst genommen."

Lucio Eicher Clere geht rüber in den leeren Gastraum und legt eine Broschüre auf den Tisch, geschrieben von ihm, diktiert von seinem Vater: "Ricordi della Campagna di Russia". Er setzt sich, er hat für seine deutschen Gäste Teigtaschen gebacken, dazu Salat, und fängt an zu erzählen:

"Bei meinem Vater war alles ein bisschen anders. Er hat den Russlandfeldzug mitgemacht. Insgesamt 200 000 Italiener waren dabei, von denen etwa 20 000 überlebt haben. Sie dachten anfangs, das wird ein Spaziergang nach Moskau. Dann sind sie in den Weiten der Ukraine stecken geblieben. Der Hunger und die Kälte müssen so furchtbar gewesen sein, er hat seine Erinnerungen an diese sechs Monate später ja aufgeschrieben und da ist mehrfach vom ,inferno di ghiaccio russo' die Rede, von der russischen Eishölle. Er sagte, auf dem Rückzug war die weißverschneite Erde oft schwarz von Leichen.

"Im Dorf gab es diese absurde Opferkonkurrenz"

Sein italienisches Bataillon wurde Ende Januar '43 zurückbeordert, 2000 Kilometer zu Fuß, aus der Ukraine über Weißrussland bis Polen. Von da aus sind die wenigen Italiener, die noch am Leben waren, mit dem Zug nach Hause. Am 1. April 43 stand er wieder hier vor der Tür, vor der Bäckerei seiner Eltern. Das Backen hat ihm in Russland wahrscheinlich das Leben gerettet, er wusste, wie man einen Ofen anheizt, und hat für die Soldaten Brot gemacht.

Na ja, er musste dann sofort wieder in den Krieg und im September war er plötzlich Kriegsgefangener und 'Verräter' und kam ins Lager nach Neuaubing, für 22 Monate. Aber da hat irgendeine wohlhabende Frau, wahrscheinlich die Ehefrau eines Parteibonzen, sich ihn als Hausangestellten oder so was ausgewählt. Der Sohn dieser Deutschen war im Krieg, unten in Süditalien. Vielleicht hat mein Vater sie an ihren Sohn erinnert, jedenfalls bekam er dank dieser Frau gut zu essen und hat bei der Familie im Garten und auf dem Feld gearbeitet, total privilegiert, kein Wunder, dass er darüber weniger gesprochen hat als über die Russlandzeit.

Nach dem Krieg hat er hier die Bäckerei übernommen.

Er hat sich nie als Opfer gesehen. Aber es gab hier im Dorf wie überall in Italien diese absurde Opferkonkurrenz, die IMI galten nichts. Ich weiß noch, wie ein ehemaliger KZ-Insasse hier im Dorf mal einen ehemaligen Militärinternierten anraunzte: 'Was wisst ihr denn? Was habt ihr schon erlitten?'

Ich habe eigentlich Theologie und Psychologie studiert, hab dann aber hier die Bäckerei übernommen, als mein Vater nicht mehr konnte. Meine Tochter macht das Ganze mittlerweile in der vierten Generation."

Vor dem Fenster fliegt ein Vogelschwarm vorbei.

"Komm, ich zeig dir meine Freunde", sagt Lucio Eicher Clere und steht auf.

"Sie warten schon auf mich, weil sie wissen, dass sie immer die Reste kriegen."

Er geht rüber in die Bäckerei, holt den Teig und wirft ihn den Vögeln hin. Die kriegen heute deutlich mehr als sonst.

"Das ist der Teig, auf dem ich vorhin das Hakenkreuz-Muster gezeigt habe. Den verwende ich nicht mehr."

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