Süddeutsche Zeitung

Zum 70. Geburtstag:Pippi Langstrumpf wäre heute Hackerin

Lesezeit: 2 min

Kinderkram war einmal. Das stärkste Mädchen der Welt würde in der knallharten Gegenwart eine neue Rolle spielen.

Von Julian Dörr

Vor genau 70 Jahren erschien im Verlag Rabén & Sjögren das erste Pippi-Langstrumpf-Buch. Die Geschichte vom unbeugsamen, phantasievollen Kind wurde ein Welterfolg, Autorin Astrid Lindgren hatte einen unsterblichen Charakter geschaffen. Schon im Frühjahr feierten die Schweden das große Jubiläum ihres sommersprossigen Kulturschatzes, und wer kann es ihnen verübeln? Der November ist besonders in Skandinavien kein Monat für rauschende Feste.

70 Jahre ist Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf nun alt, ewig jung, aber auch für immer ein Kind? Unsinn! Das würde die unternehmungslustige Pippi doch grenzenlos langweilen. Und auch der Goldkoffer, den ihr Vater hinterlassen hat, wäre irgendwann leer. Das Leben ist nicht günstiger geworden seit 1945.

Pferde stemmen geht heute nicht mehr - das arme Tier hat doch Rechte

Doch womit würde Pippi heute ihre Zeit verbringen? Welchem Job würde sie nachgehen? Wäre sie eine flippige Grundschullehrerin? Zu angepasst. Würde sie in einer hippen Design-Agentur in Stockholm sitzen? Zu viel Pseudo-Bohème. Sie wäre eine Hackerin. So wie Lisbeth Salander aus Stieg Larssons Millennium-Trilogie. Die Cyber-Kriegerin und das wilde Mädchen, sie atmen denselben autoritätskritischen Geist.

Oder was glaubten Sie, steckt hinter dem infantilen Singsang "Ich mach' mir die Welt, wi-de-wi-de-wie sie mir gefällt"? Im Netz formt sich die Zukunft, das hätte Pippi schnell gemerkt. On- und offline kämpfte die hackende Aktivistin für die Schwachen, Schutzlosen und Entrechteten. Unter dem Poster von Edward Snowden stünde ihr Laptop, den sie liebevoll "Kleiner Onkel" nennt. Den braucht sie, um hin und wieder ihre Kraft und Macht zu beweisen. Pferde stemmen macht heute ja niemand mehr, man muss doch an die Rechte des armen Tieres denken.

Die Villa Kunterbunt hat die Pippi von heute in ein Smart-Home umgebaut. Alles ist mit Sensoren ausgestattet - vom Kühlschrank bis zum Äffchen Herr Nilsson. Den Limonadenbaum hat sie gefällt, schließlich bestellt die Speisekammer selbstständig alle möglichen Lebensmittel - nicht nur Limo und Schokolade. Ein Roboter übernimmt das Staubsagen, alles ist mit allem vernetzt. Hausarbeit, da ist sich auch die Pippi der Gegenwart sicher, das ist was für lahme Erwachsene.

Annika hat sich aus allen Netzwerken verabschiedet

So bleibt mehr Zeit für Diskussionen: Die große Villa Kunterbunt ist ein Szenetreff, ihre Türen stehen jedem und jeder offen ("Alle groß und klein, tra-la-la-la-lad ich zu mir ein"). Hier wird über Post Privacy, Open-Source-Initiativen und Netzneutralität gestritten. Immer wieder eine besonders heikle Frage in der Runde: Sollten rassistische Bezeichnungen in Kinderbuchklassikern abgeändert werden?

Allein Pippis Vater, der Südseekönig, kann nicht mehr in der Hacker-Villa vorbeischauen. Er sitzt in der taka-tukischen Botschaft fest, um seiner Verhaftung zu entgehen. Tommy und Annika hat Pippi auch aus den Augen verloren. Manchmal taucht Tommy noch im News-Feed von Facebook auf, ab und zu favorisiert er einen von Pippis Tweets. Annika hat sich kürzlich aus allen Netzwerken verabschiedet. Sie denkt wehmütig an eine Zeit, in der nicht immer alle in ihre Smartphones starrten und Kinder noch draußen spielten.

Pippi Langstrumpf wäre heute eine furchtlose Vordenkerin der Digitalisierung. Eine mündige Bürgerin in einer vernetzten Welt. Sie würde sich die Welt hacken, wie sie ihr gefällt.

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