Süddeutsche Zeitung

Wort des Jahres:"Jamaika-Aus" als Wort des Jahres zu wählen, ist feige

Lesezeit: 1 min

Trotz starker Alternativen wählt die Gesellschaft für deutsche Sprache einen Begriff, der niemandem weh tut. Das zeigt, wie ängstlich in Deutschland inzwischen debattiert wird.

Kommentar von Kathleen Hildebrand

Was für eine feige Entscheidung. Was für ein fatales Signal auch. Die Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache hat ausgerechnet "Jamaika-Aus" zum Wort des Jahres gewählt. Und das, obwohl die Konkurrenz so stark war. Die Entscheidung ist ein Zeichen dafür, wie ängstlich inzwischen in Deutschland debattiert wird.

Wenn man sich die Top Ten der Kandidaten durchliest, fallen gleich mehrere Wörter auf, die für größere gesellschaftliche Diskussionen stehen: Da wäre das Wort "Obergrenze", das für die Frage steht, ob sich Hilfsbereitschaft zahlenmäßig einschränken lässt. Die "Echokammer", die eine sich polarisierende, zum Diskurs immer unfähiger werdende Gesellschaft beschreibt. Auf Platz drei steht der Hashtag "#metoo", das Label für eine weltweite Debatte über sexuelle Übergriffe. Und, auf Platz zwei, die "Ehe für alle". Mit ihrer Ermöglichung hat sich der Bundestag am 30. Juni 2017 in einer historischen Entscheidung für die Gleichstellung von homosexuellen Paaren ausgesprochen.

"Jamaika-Aus" hingegen ist ein Begriff, der so technisch ist, der so klamm an politischer Tagesaktualität hängt, wie eine regennasse Zeitung von vorgestern aus der halbgeschlossenen Papiermülltonne. Und, vielleicht noch schlimmer: Er soll niemandem weh tun. Nicht denen, die die "Ehe für alle" nach wie vor ablehnen. Nicht denen, die genervt sind von einer nicht enden wollenden Debatte über sexuelle Belästigung. "Jamaika-Aus" soll niemanden verprellen. Weil aber eine Entscheidung für etwas immer auch eine Entscheidung gegen etwas anderes ist, verprellt diese Wahl eben doch.

"Political correctness" schützt nun auch die andere Seite

Zumal in dem Begriff eine latente Wutbürgerhaftigkeit mitschwingt, die der Gesellschaft für deutsche Sprache nicht gut steht. Eine Unzufriedenheit mit "denen da oben", die es trotz Wählerauftrag nicht hinbekommen haben, sich zu einigen.

Damit bleibt als Erkenntnis aus der Jury-Entscheidung vor allem ein mieses Gefühl: Die Maßstäbe dafür, auf welche gesellschaftlichen Gruppen im öffentlichen Diskurs Rücksicht genommen werden soll, haben sich radikal geändert. Die sogenannte "political correctness", die Kritikern schon lange als zensorischer Schutzanzug für eine Gesellschaft voller hypersensibler Gender-Schneeflöckchen gilt - sie schützt nun auch die andere Seite. Jene also, die von solchem Schutz angeblich gar nichts halten.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3783921
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.