Süddeutsche Zeitung

Porträt der Choreografin Wen Hui:Jeder Körper hat einen Stempel

Lesezeit: 6 min

Die chinesische Tänzerin und Choreografin Wen Hui gräbt im kollektiven Bewusstsein ihres Landes - und traut sich endlich zu sagen, dass sie eine Feministin ist. Eine Begegnung in Weimar, wo sie mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet wurde.

Von Christine Dössel

Das schönste Geschenk zu ihrem sechzigsten Geburtstag im vergangenen Jahr hat Wen Hui sich selber gemacht: ihr erstes Soloprojekt, ein Stück mit dem bekennerhaften Titel "I am 60". Die chinesische Tänzerin und Choreografin spürt darin anhand von Bildern und Filmmaterial ihrer eigenen Geschichte, ihren Verletzungen und Prägungen hinterher, stellt sich die Frage: Wie wurde ich zu der Frau, die ich bin?

Man erfährt dabei viel Persönliches über sie. Etwa dass es kaum Kindheitsfotos von ihr gibt, anders als von ihrem Bruder, dem Erstgeborenen. Und dass sie immer dachte, das läge daran, dass sie "so hässlich" sei. Die kinderlos gebliebene Wen Hui erzählt auch, dass sie 1980 ihre erste Abtreibung hatte, verbunden mit Schmerzen, Gefühlen der Scham, des Gesichtsverlusts. Der Eingriff erfolgte ohne Narkose. Danach ging sie gleich wieder zum Ballettunterricht. Und sie erzählt, dass der Mann, den sie liebte und mit dem sie 34 Jahre lang zusammenlebte, sie betrogen hat. Dass sie das in die schlimmste Krise ihres Lebens stürzte. 2014 trennten sie sich. Er war auch künstlerisch ihr Partner im gemeinsam gegründeten Living Dance Studio, Chinas erster freier Tanztheatercompagnie.

Während Wen Huis Erzählstimme vom Band kommt, macht sie dazu auf der Bühne tänzerische Bewegungen, oft nur ganz minimale. Ein Schwingen, ein Erzittern, ein Erstarren des Körpers, ein Dirigieren mit den Händen, ein Malen in die Luft. Manchmal wirkt es, als wolle sie Kopfbilder mit den Armen erhaschen, Erinnerungen anhalten, ordnen, prüfen. Ihr zierlicher Körper wiegt sich wie ein Halm im Wind. Oft ist er weit nach hinten gebeugt: starke Brise! Aber Wen Hui hält ihr stand. Wie fast in all ihren Arbeiten baut sich die Chinesin mit ihrer zarten Leibhaftigkeit zwischen die Foto- und Videoprojektionen auf der Bühne ein, ist deren Meisterin wie deren Opfer. Es ist ihre Geschichte, die sich da zusammenstückelt, pars pro toto. Kombiniert mit alten Filmausschnitten aus dem Shanghai-Kino der Dreißigerjahre und statistischen Fakten zur Benachteiligung von Frauen in allen Bereichen der chinesischen Gesellschaft, wird daraus sehr viel mehr als nur ein Selbstporträt.

Als gerade ein Video läuft, das sie tanzend mit ihrer Mutter zeigt (Mutter führt!), gerät die leibhaftige Wen Hui auf der Bühne des Weimarer E-Werks plötzlich aus dem Takt und bewegt heftig ihren linken Fuß, als wolle sie etwas abschütteln. Eine schwere Last? Die Tänzerin macht humpelnd das "Time out"-Zeichen, und die Vorstellung wird unterbrochen: Sie ist von einer Wespe gestochen worden. Mitten auf der Bühne, mitten in den Fuß. Mitarbeiterinnen des Kunstfests Weimar, in dessen Rahmen Wen Huis Stück uraufgeführt wurde, kühlen den Fuß, und Rolf Hemke, der Leiter des Festivals, spricht in seiner Ansage von einer "Folge der Pandemie", sei das E-Werk doch lange nicht mehr bespielt worden, und in dieser Zeit habe sich in dem alten Gemäuer ein Wespennest gebildet. Dieses sei zwar kürzlich ausgeräuchert worden. Aber offenbar torkele noch das eine oder andere Insekt herum. Aua.

Wie sie später im Gespräch erzählt, wurde Wen Hui bereits während der Proben gestochen - in den Arm - und direkt nach der unterbrochenen Vorstellung noch ein drittes Mal: in den rechten Zeigefinger, an dem sie nun ein Pflaster trägt. Sie zeigt ihre Hand, die klein ist wie die eines Kindes. Gestochen, aber nicht gebrochen. Sie machte jeweils weiter, (fast) ohne sich etwas anmerken zu lassen. Obwohl es wehgetan hat, "ja, das schon".

Aber was sind schon ein paar Wespenstiche gegen die Zumutungen des Lebens! Von Letzteren weiß Wen Hui sehr viel zu erzählen, gerade als Frau in China. In ihren Arbeiten mit Titeln wie "Report on Body" oder "Report on Giving Birth" hat sie sich mit geradezu journalistischem Eifer immer wieder mit den gesellschaftspolitischen Bedingungen Chinas auseinandergesetzt, mit deren Auswirkung auf das Leben der Menschen und ihren Körper, speziell auf den weiblichen. Gemäß ihrem choreografischen Credo: "Jeder Körper hat einen Stempel", geprägt durch Erfahrung, Leid, Erinnerung.

"Es geht nicht darum, dass Frauen gegen Männer kämpfen, sondern letztlich um Menschenrechte."

Der Rückgriff auf den Körper als "reflektierendes Archiv" in Verbindung mit Elementen des Dokumentarfilms und ganz normalen Alltagsgeschichten macht Wen Hui zu einer Ausnahmekünstlerin in ihrem Heimatland. Mit ihrem Living Dance Studio gehört sie zur Avantgarde des Tanztheaters in China, gastierte in Europa bei allen wichtigen Festivals. Kein schlechter Grund, sie mit der Goethe-Medaille auszuzeichnen, diesem vom Goethe-Institut seit 1955 jährlich am 28. August, dem Geburtstag des höchstdichterlichen Namensgebers, in Weimar verliehenen Ehrenzeichen der Bundesrepublik Deutschland - eine Anerkennung für Verdienste um den internationalen Kulturaustausch.

Die Medaille ging in diesem Jahr auch an die Sozialökonomin und Präsidentin der Kulturorganisation "doual'art" Princess Marilyn Douala Manga Bell aus Kamerun und an den japanischen Komponisten Toshio Hosokawa. Aber nur Wen Hui war in Weimar persönlich zugegen. Die anderen konnten den Festakt samt Preisübergabe durch die erfreulich vitale neue Präsidentin des Goethe-Instituts, Carola Lentz, als Livestream aus dem Studienzentrum der Anna-Amalia-Bibliothek mitverfolgen. Wie das eben ist in Zeiten der Pandemie.

Carena Schlewitt, die Intendantin des Kunstzentrums Hellerau in Dresden, würdigte Wen Hui in ihrer Laudatio als "Pionierin des zeitgenössischen Tanzes": "Sie fordert auf sanfte Weise die genaue Betrachtung und Würdigung der gesellschaftlichen Rolle der Frau ein." Fragt man Wen Hui später beim Interview, ob sie eine Feministin sei, zögert sie kurz, um dann zu antworten: "Ich traue mich das jetzt zu sagen, dass ich eine Feministin bin. Lange Zeit traute ich mich das nicht." Weil der Begriff in China sehr negativ belegt sei, schickt sie hinterher, auch bei Frauen. Außerdem gebe es ein "internalisiertes patriarchalisches Denken", das sie auch bei ihrer Mutter und sich selber festgestellt habe, "es ist schwer, sich davon zu befreien." Aber sie habe begriffen: "Es geht nicht darum, dass Frauen gegen Männer kämpfen, sondern letztlich um Menschenrechte."

Wen Hui hat die langen Haare zurückgebunden, wie in ihrem Solo. Sie ist ungeschminkt, dafür leuchtet der kimonoartige Überwurf, in den sie sich gewickelt hat, in einem hellen Rot, mit schwungvoller weißer Musterung. Ihr zur Seite sitzt Clemens Treter, Leiter des Goethe-Instituts Peking, der übersetzt. Die beiden haben ein vertrauensvolles Verhältnis. Seit es Wen Huis Studio in der Caochangdi Workstation in einem Vorort Pekings nicht mehr gibt, seit 2014, stellt das Goethe-Institut der Choreografin seine Räume zur Verfügung, und es hat nach dem Stück "Red" nun auch "I am 60" koproduziert.

In "Red", uraufgeführt 2015, ging es - unter Verwendung von viel Recherchematerial und Interviews mit Zeitzeuginnen - um die "Modellopern", die unter Mao Zedong zur Zeit der chinesischen Kulturrevolution eingeführt wurden; speziell um die Propagandaproduktion "Das rote Frauenbataillon" von 1964, das erste abendfüllende chinesische Ballett. Es hat sich durch überwältigende Massenchoreografien mit vorbildhaft kampfesmutigen (Partei-)Soldatinnen ins kollektive Gedächtnis mehrerer Generationen von Chinesinnen und Chinesen eingebrannt.

Auch Wen Hui träumte als Mädchen davon, eine dieser revolutionären Vorzeigeballerinen zu werden, studierte vor dem Spiegel die Schrittfolgen und Bewegungen ein. Sie ist ein Kind dieser Zeit, weshalb sie sich in ihren Arbeiten immer wieder mit den Einschreibungen der Kulturrevolution in den Köpfen und Körpern beschäftigt. Besonders eindrucksvoll tat sie das in dem zusammen mit ihrem langjährigen Partner, dem Filmer Wu Wenguang, entwickelten Acht-Stunden-Projekt "Memory", einem Hybrid aus Filmdoku und Tanzperformance: Wen Hui ausgesetzt auf der Bühne, umtost von vielfältigsten Projektionen und Geschichten, ein Abend intimster Eindrücke, Einblicke und Erinnerungen; gefolgt von "Memory II: Hunger", einer Tanzrecherche zu jener großen Hungersnot, die zwischen 1959 und 1961 aufgrund landwirtschaftlicher Fehlplanung in China Millionen Opfer forderte.

Als Kind wurde sie zu Loyalitätstänzen vor den Bildnissen Maos geschickt

1960 in Yunnan geboren, wurde Wen Hui als Kind zu sogenannten Loyalitätstänzen vor den Bildnissen Maos geschickt, wie das damals üblich war. In den Achtzigerjahren studierte sie traditionellen Tanz und Choreografie an der Staatlichen Tanzakademie in Peking, um danach am Oriental Song and Dance Ensemble zu arbeiten. In den Neunzigerjahren dann die entscheidende Wende: Sie geht nach New York und nach Europa, um zeitgenössischen Tanz zu studieren, auch an der Folkwang-Hochschule Essen und in der Tanzcompagnie von Pina Bausch in Wuppertal. Die Arbeit mit Pina Bausch wird für sie zur Offenbarung. Das Erhellendste daran? Diesmal kommt Wen Huis Antwort schnell: "Dass jeder Tänzer, jede Tänzerin mit dem eigenen Körper für sich selbst sprach." In China sei es dagegen nicht um einen individuellen Ausdruck gegangen, "sondern um Gruppenwirkung".

Das Living Dance Studio, das sie 1994 mit Wu Wenguang gründete, ließ dann auch Individuen zu Wort kommen, Familienmitglieder, Freunde, Arbeiter, Dorfbewohner - Menschen, die sonst keine Stimme haben. Oft mit Themen, die tabu sind, weil sie die offizielle Geschichtsschreibung hinterfragen. In "Listening to My Third Grandmother's Stories" besuchte Wen Hui 2011 ihre damals 83-jährige "dritte Großmutter", eine Großtante ihres Vaters auf dem Land, eine ganz einfache Frau, die nie eine Schule besucht hat, mit zwölf verheiratet wurde, mit 14 ihr erstes Kind bekam und alle Höhen und Tiefen der jüngeren Geschichte Chinas durchlebte.

Diese Großtante, zahnlos fast, kommt auch in "I am 60" vor, womit Wen Hui einen generationsübergreifenden Bogen schlägt. Eigentlich wollte sie in dem Stück auch feministische Aktivistinnen aus dem heutigen China zu Wort kommen lassen, da habe ihr jedoch die Pandemie einen Strich durch die Rechnung gemacht. Schade. Die Verlinkung mit der unter Druck stehenden jungen Frauenbewegung fehlt tatsächlich. Aber Wen Hui sieht ihr Solo als einen "Prozess", an dem sie weiterarbeiten will. Und es gibt ja auch genügend Stoff. Dass die chinesische Regierung nun abkehrt von der jahrzehntelangen Ein-Kind-Politik und in Zukunft drei Kinder pro Paar erlaubt, wenn nicht erwartet, findet Wen Hui geradezu lachhaft: "Immer noch bestimmt der Staat über den Körper, insofern macht es keinen Unterschied."

(Im Oktober gastiert Wen Hui mit "I am 60" am Théâtre de la Ville Paris . Anfang November zeigt sie das Stück beim Spielart-Festival in München .)

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