Süddeutsche Zeitung

Romanverfilmung "Weißes Rauschen" auf Netflix:Ist das Gift schon überall?

Lesezeit: 4 min

Noah Baumbach hat Don DeLillos prophetischen Roman "Weißes Rauschen" verfilmt, inspiriert von pandemischen Ängsten - und dabei verstörende Dinge entdeckt.

Von Fritz Göttler

Mit einem Crash-Kurs geht es los, ein paar Filmschnipsel von Autounfällen aller Art, dazu eine kleine Philosophie dieser schlimmen Ereignisse. Sie haben nichts Gewaltsames an sich, wird uns erklärt, sie stehen in der Tradition des amerikanischen Optimismus... Es doziert Professor Murray, gespielt mit sehr trockener Ironie von Don Cheadle. "Man muss sich das vorstellen wie Thanksgiving oder den 4. Juli, Tage der Selbstzelebrierung. Ein amerikanischer Regisseur sagt: Ich will, dass dieser Tieflader einen doppelten Salto in der Luft schlägt, komplett mit einem Feuerball, zwölf Meter Durchmesser... Das ist ein Moment voller Geist und Inspiration, wie ein altmodischer Stuntflug oder diese Nummer, auf Flugzeugflügeln zu wandeln, walking on wings." Der Crash als schöne Kunst betrachtet. Und das Blut, die Scherben, das Blech? " Pass the violence... Die Leute, die das inszenierten, hatten eine Unbeschwertheit, einen wundervoll überbordenden Geist der Unschuld."

Man muss den Film "Weißes Rauschen" unter diesen Vorzeichen sehen, all die schockierenden und lächerlichen Dinge, die das Leben von Jack Gladney und seiner Familie auf den Kopf stellen. Gladney lehrt, wie auch der Crash-Experte Murray, an einer kleinen Provinzuniversität, er wird verkörpert von Adam Driver - sein fünfter Film mit Noah Baumbach, diesmal mit Bierbauch. Jack hat sich als Hitler-Spezialist etabliert, voll empfänglich für die dämonische Faszination der Figur, der Partei, des deutschen Volkes. Murrays Forschen ist Elvis gewidmet, deshalb gibt es mal einen kollegialen Wettstreit, Elvis und seine Mutterbindung vs. Hitler und seine Mutterbindung. Der intellektuelle Filmemacher Noah Baumbach macht sich sehr lustig über amerikanische Intellektualität, mehr als der Roman, den er hier verfilmt, im Originaltitel "White Noise", 1985, von Don DeLillo.

Die Nähe von Don DeLillos Roman zu den Pandemie-Erfahrungen war unheimlich

Die Gladneys sind eine Patchwork-Familie, genuin amerikanisch, also recht geschwätzig, es geht von früh bis spät um gesundes Essen und Arzneimittel und Drogen. Die Achtziger waren die Zeit, da die Konsumkritik in Fahrt kam, gegen den Terror der Supermärkte. Die Kinder aus diversen Ehen sind fürchterlich siebengescheit, einer der Söhne trägt den Namen Heinrich. Es wird mehr über den Tod, über Todesangst und Sterblichkeit geredet als in Woody Allens gesamtem Werk, und Jacks Frau Babette - gespielt von Greta Gerwig, Baumbachs Partnerin (die eben ihren neuen Film "Barbie", mit Margot Robbie und Ryan Gosling, fertigstellte) - nimmt gegen ihre Todesunruhe eine obskure neue Droge namens Dylar. Die hat den blöden Nebeneffekt, dass man die Dinge nicht mehr von den Worten unterscheiden kann, die sie bezeichnen; Kultur des Materiellen.

Der Film ist aus dem Geist des Lockdowns entstanden, der auch das Ehepaar Baumbach/Gerwig um die Jahreswende 2019/2020 in die Isolation trieb - sie waren beide mit ihren neuen Filmen für die Oscars nominiert, er für "Marriage Story", sie für "Little Women", und steckten in einem Wirbel von Pressekonferenzen und Screenings an der Westküste, alle mit vielen Menschen, immer nah dran - zurück in New York packte sie dann der Covid-Stress und hielt sie wochenlang in ihrem Apartment fest: "Jeden Morgen checkte ich die Nachrichten, um zu sehen, wie stark ich mich ängstigen sollte." Noah hatte sich Don DeLillos Roman wieder vorgenommen, und die Nähe des dort Erzählten zu Erfahrungen der Pandemie, die Dominanz einer unsichtbaren Bedrohung war unheimlich.

"Weißes Rauschen" galt als unverfilmbar - Barry Sonnenfeld, James L. Brooks, Michael Almereyda hatten es probiert und aufgegeben. Aber nun, da die Zukunft des Kinos durch die Schließungen der Filmtheater und die Hygienebedingungen der Drehs auf dem Spiel stand, schien es ein ganz selbstverständliches Projekt zu sein. Und Netflix sah das ebenso. Für Noah Baumbach, der eher intim die Psyche der amerikanischen Familie in seinen Filmen seziert, war es ein Neubeginn - wenn schon wieder Kino, dann richtig, mit Action und Katastrophen und Crashs.

Im Mittelpunkt steht ein "luftübertragener toxischer Vorfall", ein Unglück in der Nähe der Gladneys, das eher utopisch anmutete, als der Roman damals erschien, ein Jahr vor Tschernobyl. Ein Tanklaster mit hochgiftiger Ladung rammt einen Güterzug. Noah Baumbach filmt die Karambolage mit klassischem Suspense, aber elegant verdichtet: Die Waggons des Zuges schieben sich ineinander wie eine Ziehharmonika. Aus dem Leib des Tankwagens dringen kleine giftrote Rinnsale von Nyodene D., eine toxische Gaswolke bedroht die Stadt. Das Unglück wird kleingeredet von den Behörden und in den Nachrichten, es gibt Evakuierung und verstopfte Straßen, hektische Flucht, der Tod ist nun drohend, unsichtbar, präsent. Hat Jack etwas von dem tödlichen Gift abbekommen, als er ausstieg und den Wagen auftankte? "Es wird mich in meinem Körper überleben."

In Baumbachs Kino finden, wie bei Godard, Action und Intellekt zusammen

Noah Baumbach hat viel Dialog aus Don DeLillos Roman übernommen, aber er ist doch ein Kind des Kinos, sein Vater, ein Filmkritiker, hatte ihn immer mitgenommen, auch in Pressevorführungen. Der Film ist wie eine amerikanische Paraphrase von Godards "Weekend", im Grunde aber, sagt Baumbach, eine Art "National Lampoon's Vacation", das war eine Familientourklamotte mit Chevy Chase. Es gibt eine deftige Slapstick-Szene - als Jack für seine Hitler-Studien endlich Deutsch lernen muss, kämpft er in einer Szene mit seinem Lehrer um die korrekte Aussprache des Satzes "Ich esse Kartoffelsalat", mit Händen und Füßen, als wäre er Don Quijote vor den Windmühlen... Wenn die Katastrophe vorbei ist, mündet alles in eine große Musicalnummer - wo alle tanzen im Supermarkt, zur Musik von "New Body Rhumba" von LCD Soundsystem.

In Baumbachs Dylarama finden - so artifiziell wie bei Godard - Action und Intellekt zusammen. Der Film löst sich von komplizierten menschlichen Passionen, um uns etwas Elementares, Lautes und Feuriges zu zeigen. Einen wundervoll überbordenden Geist der Unschuld.

White Noise , 2022 - Regie und Buch: Noah Baumbach. Nach dem Roman von Don DeLillo. Kamera: Lol Crawley. Schnitt: Matthew Hannam. Musik: Danny Elfman. Mit: Adam Driver, Greta Gerwig, Don Cheadle, Raffey Cassidy, May Nivola, Sam Nivola, Lars Eidinger, André L. Benjamin, Kenneth Lonergan, Barbara Sukowa. Netflix, 136 Minuten. Streamingstart: 30. 12. 2022.

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