Süddeutsche Zeitung

Theater und Größenwahn:Mit Lotte und Wuttke in Weimar

Lesezeit: 3 min

Julien Gosselin inszeniert an der Berliner Volksbühne "Sturm und Drang - Geschichte der Deutschen Literatur". Auch Goethe tritt auf. Und es gibt ganz viel Thomas Mann. Aber warum schaut hier alles so aus wie früher bei Frank Castorf?

Von Till Briegleb

Es mag wie eine weise Entscheidung wirken, in der Nachfolge großer Vorbilder lieber zu kleckern als zu klotzen. Zum Beispiel, wenn an einem Haus wie der Berliner Volksbühne Bert Neumann und Aleksandar Denić über Jahrzehnte Maßstäbe in der Kunst der Szenerie definiert haben, die nur schwer zu übertreffen sind. Nun hat sich das Regieteam des französischen Regisseurs Julien Gosselin einem Projekt verschrieben, das grundsätzlich nach volksbühnentypischem Größenwahn klingt: eine "Geschichte der Deutschen Literatur" über mehrere Spielzeiten auf die Bühne zu bringen. Die szenische Umsetzung aber erfolgt in großer Demut vor der Haustradition kärglich.

Die Bühnenbildnerin Lisetta Buccellato zitiert für das erste Kapitel dieses Bühnenseminars, das sich mit "Sturm und Drang" befassen will, alle Elemente einer typischen Denić-Drehbühne, heruntergebrochen auf den Stil einer informellen Siedlung. Das Haus in Wetzlar, wo Goethes junger Werther auf seine Lotte trifft, sieht aus wie der Stall eines Krippenspiels mit Blümchentapete. Das berühmte Hotel "Elephant" in Weimar, in das die echte Lotte, also Hofrätin Witwe Charlotte Kestner, geborene Buff, 44 Jahre später eincheckt, um Goethe wiederzusehen, ist eine Sperrholzkonstruktion, dekoriert mit Omas Lampenschirmen und Ölschinken vom Flohmarkt. Diese Biedermeier-Favella befindet sich hinter einem Fassadenlappen mit aufgemalten Fenstern - ein restlos desillusionierender Vorhang, der meist großflächig verdeckt wird von einer riesigen Leinwand. Denn Gosselin lässt, ganz im Stil des früheren Volksbühnen-Intendanten Frank Castorf, den Großteil des Geschehens im Verborgenen von Kameras aufnehmen und nach vorne übertragen.

Die Schauplätze verraten es bereits: Gosselins erstes Kapitel seiner "Geschichte der Deutschen Literatur" heißt zwar "Sturm und Drang", befasst sich aber tatsächlich mit Thomas Mann. Dessen Roman "Lotte in Weimar" bildet das Gerüst von Gosselins eigenwilliger Behauptung, man könne über die Flegeljahre der deutschen Sprachgenies Goethe, Schiller, Klopstock und Herder etwas erzählen, indem man sich nur auf Goethes "Die Leiden des jungen Werther" bezieht. Dies wiederum geschieht aus der Perspektive der mikadoartigen Geduldsprosa ewiger Schachtelsätze von Thomas Mann, wo alle stürmende Romantik und drängende Überspanntheit in die Brise akribischer Beobachtungen gemildert ist.

Im Hotel "Elephant" in Weimar tummelt sich die hysterische Fanbase des Dichters

Es ist Gosselins erste Regiearbeit in Deutschland, nachdem er mit einer Romanadaption von Michel Houellebecqs "Elementarteilchen" und einer zwölfstündigen Version von Roberto Bolaños "2666" auf sich aufmerksam gemacht hat. Sie beginnt wie eine anständige Literaturverfilmung. Victoria Quesnel als Lotte begegnet mehr als 30 Jahre nach dem Ende von Goethes Sturm-und-Drang-Periode zunächst keineswegs dem ergrauten Dichter, sondern nur seiner hysterischen Fanbase. Der impertinente Wirt des "Elephanten", den Hendrik Arnst spielt wie das aufdringliche Faktotum einer Horrorkomödie, und die schwafelnden Dichter-Groupies in hochgeschlossenen Kostümen der Klassik (Caroline Tavernier) zögern die ersehnte Begegnung ewig hinaus.

Das ist anfangs noch amüsant, etwa wenn Benny Claessens als Goethes Adlatus Riemer in exaltierten Monologen die arme Lotte damit konfrontiert, dass sie beide Opfer von Goethes Eigensucht seien. Die im Blümchenstall aufgezeichneten Leidenschaften aus dem "Werther", die mit den Weimarer Episoden im Hin und Her erzählt werden, rufen dazu Erinnerungen an den Autorenfilm wach, wenn er sich in historischen Klamotten mit der Geburt des deutschen Geniewahns im 18. Jahrhundert befasste. Marie Rosa Tietjen als Werther gelingt hier eine erstaunlich ernsthafte Einfühlungsstudie in den wahnhaften Charakter stilisierter Leidenschaft.

Nach eineinhalb Stunden vergeblichen Wartens auf das Thema des Abends, "Sturm und Drang", biegt die Geschichte noch weiter ab Richtung Thomas Mann - und dann überwiegt das Blasierte. Anfang, Mitte und Schluss von "Tod in Venedig" werden von Rosa Lembeck beim Gang durch die magere Kulisse vorgetragen, und da erscheint auch endlich der Goethe-Darsteller Martin Wuttke, allerdings als Aschenbach, Manns todgeweihter Protagonist mit der pädophilen Leidenschaft, der sehr müde, torkelnd und knurrig an diesem sinnlosen Ausflug nach Venedig teilnimmt.

Zuletzt hatte Wuttke an der Volksbühne Goethes Faust gespielt, 2017 in Castorfs gefeierter Abschiedsinszenierung. Wer sich auf eine Art Fortsetzung seines Spiels gefreut hatte, nun in der Rolle von Goethe himself, erlebte das manierierte Porträt träger Alterseitelkeit: Johann Wolfgang von Wuttke. Maulend, nölend, miesgelaunt ist der von Genieverherrlichung korrumpierte Schriftsteller nur genervt von der möglichen Konfrontation mit seiner obsessiven Vergangenheit. Als uncharmanter Grobklotz behauptet er, Lotte sei gar nicht Lotte, und räsoniert dann bei einem Abendmahl mit Jüngerinnen und Jüngern über das Deutsche.

Mit diesen Passagen über das Nationale aus "Lotte in Weimar", in denen Thomas Mann 1939 unverkennbar Hitler porträtiert hatte, doziert sich der rund vierstündige Abend aus. Das wäre vielleicht in einer halb so langen Inszenierung ein Anlass gewesen, über die strukturelle Ähnlichkeit dichterischer und diktatorischer "Genies" nachzudenken. In dieser kleckernden Biederkeit, mit der Gosselins Inszenierung sowohl dramaturgisch wie inszenatorisch die Geduld strapaziert, weckt es aber leider nur schmerzliche Erinnerungen an bessere Zeiten: als der Größenwahn an der Volksbühne auch bei größter Zähigkeit noch richtig was hergemacht hat.

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