Süddeutsche Zeitung

Ukrainisches Tagebuch (XX):Zerstören, plündern, morden

Lesezeit: 3 min

Ihre Verbrechen werden in die Geschichte eingehen: Was sind das für Menschen, die über mein Land herfallen? Das Tagebuch aus der Ukraine.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Kurz vor Mitternacht am 2. April bekomme ich eine Nachricht von einer unbekannten Nummer auf dem Chat-Dienst Viber. "Ich bin K., am 8. März sprach ich mit deutschen Journalisten am Bahnhof in Tscherniwzi (Czernowitz), während ich mit meiner Mutter und der 93-jährigen Oma auf den Bus zum Grenzübergang wartete. Kann ich die Sendung irgendwo noch sehen?" Natürlich erinnere ich mich an sie, K. erzählte auf Englisch, sie wollten nach Bulgarien zu einem Verwandten. Ich frage, wo sie jetzt sind. Immer noch in Bulgarien, alle haben großes Heimweh. K. schreibt: "Vor ein paar Tagen hatte ich so einen starken Wunsch, einfach nach Hause zu kommen, mich hinzuknien, und den Erdboden mit dem Kopf zu berühren ... um ihn zu spüren." Ich kann es nur ahnen, wie es sich für sie anfühlt, wenn sie mir, einem fremden Menschen, das schreibt; wir unterhielten uns gerade mal eine halbe Stunde.

Später, im Bett, muss ich an vieles denken. Ich weiß nicht genau, aus welchem Ort in der Kiewer Umgebung K. kommt. Vielleicht ist er von Kampfhandlungen verschont geblieben. Vielleicht aber ist es einer der Orte, die in den letzten Tagen befreit wurden und die jetzt als Orte neuer Kriegsverbrechen in die Geschichte eingehen werden. Journalisten von Reuters, Agence France-Press und BBC können diese dokumentieren - wichtig für die Ukraine, denn sie werden hoffentlich als "unabhängige dritte Seite" anerkannt. Was man auf diesen Fotos sieht, muss ich nicht beschreiben - man sieht sie im Netz und in Zeitungen. Aber ein paar Fragen dazu erlaube ich mir. Putin allein ist für den Krieg - und folglich für alles, was er an Tod, Zerstörung und Leiden bringt - verantwortlich? Wie haltbar kann diese Behauptung heute, am 39. Tag des russisch-ukrainischen Krieges, sein?

Wer sind diese Wesen, die, aus der Russischen Föderation kommend, morden, foltern, vergewaltigen, zerstören und plündern - alles auch im zivilen Bereich? Klone des russischen Präsidenten? Wenn sie sich alle zur "russischen Welt" bekennen, so darf ich wohl davon ausgehen, dass viele von ihnen "im Schoß der großen russischen Kultur" erzogen und gebildet wurden? Dass sie womöglich russische Literatur lasen, russische Musik hörten, die Kunstschätze in Museen bewunderten? Wenigstens im Schulunterricht? Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass es nicht wenige unter ihnen gab, die "bildungsfern" waren. Nur: bei hochrangigen Oberkommandierenden schwer vorstellbar.

So grausam die Verbrechen der Russen in der Ukraine sind - vieles davon erscheint mir schmerzhaft bekannt

In einer Umfrage des Belsat TV (der Sender ist die einzige belarussische Alternative zum staatlichen Fernsehen) in Kasan, der Hauptstadt der Republik Tatarstan, antworten auf die Frage: "Glauben Sie, dass die militärische Sonderoperation in der Ukraine weitergeführt werden soll, weil ihre Ziele noch nicht erreicht sind?" elf von 14 Personen überzeugt-bejahend. Es sind exakt genommen 21,5 Prozent, die sich dagegen oder eher dagegen aussprechen. Nicht repräsentativ? Vielleicht, wenn man nicht die weit aussagekräftigeren Daten des analytischen nicht gerade regimekonformen Lewada-Zentrums hätte. Demnach sind es 53 Prozent der Antwortenden, die die "militärische Sonderoperation" "unbedingt unterstützen" und 28 Prozent, die "eher unterstützen". Wer immer noch an die Mär vom "schlechten Zaren" und "gutem Volk" glaubt, sollte mal einen Streifzug durch das russische Internet machen. Die wenigen Menschen, die tatsächlich regierungskritisch sind, kann man nur bemitleiden. Pech gehabt. Geisel des Systems. Und ja, ich will auf die kollektive Verantwortung hinaus, für Russen wohl ein Fremdwort.

So grausam die Verbrechen der Russen in der Ukraine auch sind - ich erwische mich dabei, dass mir vieles davon schmerzhaft bekannt erscheint: aus der Literatur. Wenn ich Fotos, Videos und Beschreibungen von Zeuginnen und Zeugen sehe und höre, kommt es mir manchmal vor, als wären es Szenen aus Werken wie "Baturyn" (1927) von Bohdan Lepkyj, "Die Horde" (1992) von Roman Iwanytschuk, "Der Garten von Getsemani" (1950) oder "Tigerfänger" (1944) von Iwan Bahrjanyj - um nur einige von vielen zu nennen, in denen es um die brutale Ausrottung der Ukrainerinnen und Ukrainer seit dem 18. Jahrhundert geht. Letzteres erschien 1962 auf Deutsch unter dem Titel "Das Gesetz der Taiga".

Die Romane von Bahrjanyj, 1902 in Kusemyn geboren, sind autobiografisch geprägt und erzählen von seinen Erfahrungen als Häftling in der NKWD-Untersuchungshaft, in der Lagerhaft und auf der Flucht aus Sibirien. Als Ukrainer hatte er im Westen, wo er seit 1945 lebte, keine Lobby wie etwa Alexander Solschenizyn - obwohl sein Werk nicht minder einen Nobelpreis verdient hätte als das des russischen Exilautors. Allerdings findet sich in der Angabe zu der Publikation auf der deutschen Webseite des Arbeitskreises Jugendliteratur heute noch der Hinweis "Originalsprache: Russisch". So viel zum differenzierten Umgang mit den ostslawischen Literaturen.

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