Süddeutsche Zeitung

Doku auf Netflix:Mit Haltung, wie eine Königin

Lesezeit: 5 min

"Was würde Sophia Loren tun?" Eine bezaubernde Netflix-Doku erzählt die Geschichte einer Amerikanerin, die nach dieser Frage lebt. Am Ende steht ein großes Treffen.

Von Johanna Adorján

"What would Sophia Loren do?" ist eine nur 30-minütige Dokumentation auf Netflix, die wahnsinnig bezaubernd ist. Die eine Hauptperson ist eine ältere Amerikanerin namens Nancy Kulik, die wir gleich zu Beginn auf ihrem hellen Sofa in New Jersey sitzen sehen, eine sehr nett aussehende Dame mit dunkelbraunen kurzen Haaren, Ohrringen und Brille. Sie hat sich für den Anlass eine Bluse mit weißem Kragen angezogen und guckt freundlich in die Kamera, während um sie herum noch letzte technische Vorbereitungen getroffen werden, ihr noch mal ordnend durch die Haare gegangen wird. Sie strahlt etwas gewinnend Zuversichtliches aus, als könne sie so schnell nichts umhauen.

Schnell erfahren wir, dass sie, Kind italienischer Einwanderer, sich schon als junge Frau die berühmte Filmschauspielerin Sophia Loren als Vorbild ausgesucht hat, weil die ihr so stark vorkam. Eine Frau, die ihren eigenen Weg geht. Und die aus Italien war, wie Nancys Eltern und alle Menschen, mit denen sie aufgewachsen war. Wann immer sie in ihrem Leben nicht wusste, was der richtige Weg war, diente ihr eine Frage als Kompass: Was würde Sophia Loren tun?

Hauptfigur Nummer zwei ist tatsächlich: Sophia Loren. Sie ist heute 86 Jahre alt. Sie sieht aus wie eine sagenhaft schöne Landschaft, eine Naturgewalt, man kann sich an ihrem Gesicht nicht sattsehen und möchte sich alles darin merken. Der Film zeigt sie bei Dreharbeiten. Regie führt einer ihrer Söhne. Immer wieder sucht sie nach einem Take seinen Blick, seine Rückversicherung. Sie wirkt zerbrechlich und stark zugleich, wie eine Veteranin, ihre ganze Körpersprache ist ein Sieg über sich selbst. Sie geht an der Hand ihres Sohnes, der sie stützt, und ist doch kerzengerade dabei. Als sie sitzt, umfasst sie einmal mit beiden Händen ihre Taille und zurrt sich zurecht wie früher, wie die junge Sophia Loren, die mit 17 Jahren einen Schönheitswettbewerb gewann, zu dem ihre Mutter sie angemeldet hatte, weil sie nicht mehr wusste, wie sie ihre Kinder ernähren sollte. Den Preis in der Tasche entfloh Sophia Loren in ein neues Leben, eroberte erst Rom und dann die ganze Welt. Sie war ewig und glücklich verheiratet mit dem Produzenten Carlo Ponti, hat zwei Söhne, drehte mit den berühmtesten Regisseuren und Schauspielern und arbeitet noch heute. Klingt wie ein Märchen.

Wie man sich zusammennimmt, Haltung zeigt, das hat sie sich bei Sophia Loren abgeschaut

Nancy ist verheiratet, vierfache Mutter, Großmutter. Wir sehen ihr dabei zu, wie sie sich große Sophia-Loren-Filme anschaut. Sie kann mitsprechen, kennt sie in- und auswendig, und das ganze riesige menschliche Drama, das da jeweils verhandelt wird, spiegelt sich in ihrem Gesicht. Als auf dem Bildschirm "Und dennoch leben sie" (1960) von Vittorio De Sica läuft, in dem Sophia Loren als junge Witwe mitansehen muss, wie ihre 13-jährige Tochter von Soldaten vergewaltigt wird, fühlt Nancy, die diesen Film oft gesehen hat, den überwältigenden Schmerz wieder mit, den das für eine Mutter bedeuten muss, verschmilzt auf ihrem Sofa mit Sophia Loren in diesem Film. Was für eine Kraft Filme haben können. Dass bewegte Bilder Menschen 60 Jahre nach ihrer Entstehung noch so nachhaltig berühren.

Nancy Kulik haben Sophia Lorens Filme in ihrem Leben sehr geholfen. Die Frau, die sie darin sah, hat sie nicht nur davor bewahrt, Vollkornnudeln zu essen und Sport zu treiben, sondern sie hat ihr auch in großen Krisen Halt gegeben. Wie man sich zusammennimmt, Haltung zeigt, das hat sie sich bei Sophia Loren abgeschaut. Als ihr die größte Katastrophe passierte, als vor ein paar Jahren einer ihrer Söhne, längst erwachsen, Vater zweier Kinder, an den Folgen eines Surfunfalls starb, da hat sie sich am Riemen gerissen, wie Sophia Loren es getan hätte, um für ihre Enkelkinder, die nun keinen Vater mehr hatten, da zu sein. Das hat Sophia Loren vermocht. Ohne es zu ahnen.

"Was würde Sophia Loren tun?", wiederholt Sophia Loren Nancys Lebensmotto. Sie sitzt in einer roten Seidenbluse, die sie sicherheitshalber doch noch einen Knopf weiter zugemacht hat, um nicht zu viel Dekolleté zu zeigen, perfekt geschminkt mit falschen Wimpern und großen Haaren und Pipapo in einer Interviewsituation vor der Kamera und sieht wirklich ratlos aus. "Aber warum ich?"

Und dann sehen wir in kurzen Filmszenen und Bildern wieder ihren ganzen Zauber. Sehen Sophia Loren, diese große stolze wunderschöne Frau mit dem italienischen Temperament, mit Riesenschritten auf hohen Absätzen durch ihre Filme laufen und den Männern links und rechts den Kopf verdrehen. Sie strahlt zugleich Sinnlichkeit und Mütterlichkeit aus. Solche Frauen gibt es sonst nicht, schon gar nicht in Deutschland, aber vielleicht auch in Italien nur ein einziges Mal. Sie hat ihre eigene Schönheit in die Welt gebracht, so sah niemand sonst aus, schon gar nicht im Film, mit wiegenden Hüften und ausladender Oberweite, diesem Grübchen im Kinn, der entschiedenen Nase und den Katzenaugen, über die mal das Gerücht kursierte, sie habe sie durch Haarklammern erreicht, die sie steil nach oben in den Haaransatz schob, was nicht stimmen muss, aber verdeutlicht, dass man sich Gedanken über ihr Aussehen machte, das so anders, so einschüchternd und dennoch voller Wärme war.

Im Film sind auch Ausschnitte aus älteren Interviews mit ihr zu sehen. Da erzählt sie überraschend offen davon, warum sie sich für den kleinen untersetzten Carlo Ponti entschied, obwohl sie Cary Grant hätte heiraten können, der rasend in sie verliebt war. Sie hat wohl wirklich überlegt und sich dann für den Mann entschieden, der aus demselben Holz war wie sie. Auch aus Italien. Familie.

Am Ende des Films treffen die beiden Frauen aufeinander, der Fan und sein Star

Ihre Kindheit hat sie in Armut und ohne Vater verbracht, sie hat, wie sie sagt, für alles hart arbeiten müssen, für ihre Ehe, ihre Karriere, und für ihre zwei Kinder. Nach Fehlgeburten hatte sie komplizierte Schwangerschaften, musste in beiden Fällen acht Monate liegen ... Als die Sprache auf ihren 2007 gestorbenen Mann, Carlo Ponti kommt, kann sie plötzlich nicht weitersprechen. Einen Wimpernschlag lang merkt man ihr an, dass sie mit aller Macht Tränen zurückkämpft, sie führt ihre Zeigefinger vor den Mund, schweigt immer noch, dann hat sie sich wieder gefangen, diese Königin.

Es gibt eine berühmte Striptease-Szene mit ihr, der Film heißt "Gestern, heute und morgen" (1963), bei der ihr Filmpartner Marcello Mastroianni irgendwann vor lauter Begeisterung anfängt wie ein Hund zu jaulen und die darin gipfelt, dass Sophia Loren sich mit einer Vollkommenheit die Strümpfe von den nach oben gestreckten Beinen pellt, sie mit kostbarer Geste bis über die Fußspitze streift, die wirklich zum Niederknien ist. Nancy Kulik, die man sich keineswegs als traurige Person vorstellen darf, hat sich auch diese Szene einmal zum Vorbild genommen, weil sie, länger her, dachte, Hausfrau und vier Kinder, schön und gut: Ein bisschen Spaß braucht jede Ehe. Als ihr Mann, in den sie auch heute noch, nach Jahrzehnten Ehe, glorios verliebt zu sein scheint (und er in sie), erschöpft von der Arbeit nach Hause kam, empfing sie ihn im Bademantel. Sie gluckst noch heute vor Vergnügen, wenn sie sich an sein verdutztes Gesicht erinnert, als sie den Mantel öffnete und er die Spitzenunterwäschen-Montur sah, die sie darunter trug, bis hin zum Strumpfhalter in vollkommener Sophia-Loren-Perfektion.

Am Ende des Films treffen die beiden Frauen aufeinander, der Fan und sein Star. Es wird eine wunderschöne Begegnung, in der gar nicht mehr so ganz klar ist, wer von den beiden hier die Stärkere ist. Und man hat eine Ahnung davon bekommen, dass Nancy nicht die Einzige von ihnen war, die sich von der Frage durch ihr Leben leiten ließ: Was würde Sophia Loren tun?

Was für ein interessanter überraschender Film, der in 30 Minuten so viel Lebensweisheiten erzählt.

What Would Sophia Loren Do?, USA 2021 - Regie: Ross Kauffman. Mit: Nancy Kulik, Sophia Loren, Edoardo Ponti. Mehr Credits auf Imdb.com . Netflix, 32 Minuten.

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