Süddeutsche Zeitung

Theater:Sei ein Genie

Lesezeit: 3 min

Kirill Serebrennikow inszeniert am Hamburger Thalia-Theater Tschechows Novelle "Der schwarze Mönch" in drei Variationen. Es geht um das Dasein des Künstlers zwischen Norm und Vision.

Von Till Briegleb

Lieber verrückt und glücklich als gesund und fad. So lässt sich Tschechows Novelle "Der schwarze Mönch" auf einen Satz bringen. Diese Selbstbehauptungsformel aller Künstler, die an der Normalität ihrer Umwelt verzweifeln, hat Anton Tschechow 1893 in eine stark persönlich gezeichnete Erzählung verwandelt, in der er sogar seinen Tuberkulose-Tod 1904 vorhersah. Und in der er sich selbst als "Genie" bezeichnete, was ihm wohl kein Leser als eitel unterstellen konnte, schließlich war seine Hauptfigur Kowrin, Beruf: Genie, nur für jene als Alter Ego zu erkennen, die ihn gut kannten.

Der Blut spuckende, überanstrengte, schlaflose Autor von Freiheitsprosa, der auf das Land zu einfachen Leuten flieht, um dem Stress der Großstadt zu entkommen, der dort Visionen hat, die ihn zum kraftvollen Veränderer erklären, das ist Tschechow, der über Tschechow spricht. Ein Jahr zuvor hatte er das Gut Melichowo bei Moskau gekauft, dort arme Menschen und einen Garten gepflegt. Dieser Garten, ein Ort, dessen Gedeih von festen Regeln und der Cleverness des Gärtners abhängt, die Launen des Klimas auszutricksen, ist gleichzeitig Sehnsuchts- und Gegenbild in Tschechows Traum vom Glück. Und eine politische Metapher für den Regisseur.

Denn Kirill Serebrennikow, der nach fünf Jahren staatlicher Schikane, nach Prozessen, Hausarrest und Ausreiseverbot Anfang des Jahres überraschend aus Moskau nach Hamburg fliegen durfte, um am Thalia-Theater seine Inszenierung "Der schwarze Mönch" vor Ort zu vollenden, mag sich in dieser Figur gleichfalls spiegeln. Die Enge einer moralisch beschränkten Welt ohne Fantasie, die jede künstlerische Freiheit bedroht, das entspricht wie vor 130 Jahren dem heutigen Russland unter autokratischer Herrschaft. Aber Serebrennikow formuliert diese Parallele nicht konfrontativ. Er versteckt seine Botschaft vielmehr in einem Verlauf, der von Tschechows Lebensthema, der Langeweile, hinüberführt in ein pathetisches Oratorium hoffnungsvoller Imperative: Sei ein Genie! Freue dich! Tritt hervor aus der Herde und sei glücklich!

Das singt ein Konvent schwarzer Mönche als optimistisches Finale der Inszenierung. Die Kraft des Regisseurs, ungebrochen aus der staatlichen Disziplinierung hervorgegangen zu sein, wird ins Jubilierende vergrößert. Und das verfehlt nicht seine Wirkung beim Publikum, das zum Applaus fast geschlossen aufstand und das Ensemble aus russischen, deutschen, amerikanischen, armenischen und lettischen Schauspielern und Schauspielerinnen sowie Serebrennikows Sendung hochleben ließ. Vielleicht zum Erstaunen des Restes. Denn in einer weltpolitischen Situation, die einen weiteren russischen Überfall auf die Ukraine erwarten lässt, mag diese Feier individualistischer Glücksperspektive auch befremdlich wirken.

Aber diese merkwürdige Euphorie ist nur ein Blickwinkel auf die Geschichte Kowrins. In vier Erzählperspektiven wiederholt Serebrennikow den Inhalt, wie der verstörte Künstler erst Erholung in festen Familienstrukturen sucht, dann mit seinem Wahnbild vom Mönch, der ihn als Ausnahmemenschen preist, seine Bestimmung zu finden meint, um schließlich im Irrenhaus von diesem Wahn kuriert zu werden - womit auch sein Lebensgeist stirbt. In einer zähen ersten Sequenz rund um drei hölzerne Gewächshäuser (Bühne: Serebrennikow), die sich von der Langeweile des wiederkäuenden Landlebens, das sie beschreibt, selbst nicht befreien kann, wird die Geschichte aus der Sicht von Kowrins Ziehvater, dem passionierten Obstgärtner (Bernd Grawert) erstmals erzählt.

Es ist auch Überwältigungstheater - mit Kirchenchören, Derwischtänzen und lüsternem Ballett

Nach diesen volkstheaterhaften Szenen, die einige Vorurteile über Menschen vom Dorf wachrufen, anständig, aber gewöhnlich zu sein, eröffnet die erste Wiederholung der Geschichte eine spannende Perspektive. Obstgärtners Tochter Tanja, die Kowrin in dem Irrtum heiratet, so Frieden zu finden, erzählt eine weibliche Verletzungsgeschichte. Gabriela Maria Schmeide als "ältere" Tanja (die junge wird von Viktoria Miroshnichenko als naive Dorfschönheit gespielt) seziert mit analytischem Blick die Eitelkeiten der Männer, die alle ins Unglück stürzen. Herb, aber gerecht, liefert diese Tanja den einzig wirklich modernen Kommentar zu Tschechows Genie-Erzählung vom egozentrischen Mann - der sich in der nächsten Wiederholung aber wieder bizarr spreizen darf.

Drei Kowrins - Mirco Kreibich, Odin Biron und Philipp Avdeev - begegnen in Version drei erstmals dem Mönch (Gurgen Tsaturyan) und elf Vervielfältigungen. Nach Volkstheater und kritischem Realismus wechselt Serebrennikow nun zur Choreografie. Vor dunklen Bildern, die der Gegenüberstellung von Masse und Individuum dienen, wird Verrücktheit als expressive Lebenshaltung in drei Temperamenten skizziert. Es bleibt allerdings auch im Dunklen, ob die selbstverliebte Wildheit der drei Genies der Rechtfertigung ihrer Lebensunfähigkeit dient oder eine Kritik an ihrer Eigensucht ist.

Und so wird die Aufgabe, die Schizophrenie des Künstlers zwischen Norm und Vision zu deuten, dem vierten Akt übertragen. Vor den umgestürzten Gartenhäusern entfesselt sich die Perspektive des Mönchs auf das Geschehen in Überwältigungstheater. Der große schwarze Anstifter zum Anderssein fährt donnernde Beats und Kirchenchöre, Derwischtänze und lüsternes Ballett, wirbelnde Lichter und große Planeten mit irren Grimassen auf, um den psychischen Kosmos eines Genies darzustellen. Und der schwarze Mönch als guter Ratgeber sendet als letzten Satz eine zusammenfassend frohe Botschaft in die Welt: Habt keine Angst! Ob das gerade wirklich hilft?

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5514036
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.