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"Selbstverfickung" von Oskar Roehler:Staatlich subventionierte Weißweinschorlen-Seligkeit

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Regisseur Oskar Roehler rechnet in seinem Buch "Selbstverfickung" mit dem deutschen Film ab. Ein Roman? Ja, aber vor allem ein gnadenloser, semifiktiver Wutmonolog.

Von David Steinitz

Die Schlaftablettensammlung des alternden Regisseurs Gregor Samsa umfasst zu Beginn dieser Geschichte zehn Packungen à zwanzig Tabletten Zopiclon 7,5 mg.

Säuberlich gestapelt liegen sie im Kühlschrank zwischen den Champagnerflaschen, und wäre Gregor Samsa einer dieser harten Typen alter Kinoschule, die er so bewundert - Elia Kazan, Nicholas Ray, King Vidor -, dann würde er sie vermutlich alle auf einmal schlucken.

Er ist allerdings nur ein deutscher Regisseur, der nach einer deutschen Schulpflichtlektüre benannt wurde und es im deutschen Kino zu genug Ruhm gebracht hat, um die gesamte deutsche Branche und ihre staatlich subventionierte Weißweinschorlen-Seligkeit abgrundtief zu hassen.

Deshalb nimmt er die Tabletten nur in kleinen Dosen. Also genug, dass sie ihm im Zusammenspiel mit ein paar Flaschen Champagner einige Stunden Schlaf bescheren, damit er am nächsten Morgen verkatert seine Schimpftiraden über das Leben im Allgemeinen und die Filmidioten im Speziellen fortsetzen kann. Bis das Champagnerspielchen von vorne losgeht, denn: "Meist kam die Angst durch Nüchternheit im fortgeschrittenen Stadium."

"Selbstverfickung", das ist nicht nur der Titel dieses Buches, sondern auch das literarische Genre, dem man es zurechnen sollte. Auf dem Umschlag steht zwar klein die Bezeichnung "Roman", aber das ist lediglich eine sympathische Lüge. Der Regisseur und Schriftsteller Oskar Roehler begibt sich mit diesem semifiktiven Wutmonolog in die Tradition des Pamphlets, das in Deutschland einen eher mäßigen Ruf besitzt, das aber doch ein ziemliches Kunststück sein kann, wenn man es so gnadenlos angeht wie er. Der 58-Jährige hat parallel zu seinen Filmen vor einigen Jahren mit dem Bücherschreiben begonnen. Zum Glück, denn heraus kamen der wunderbare Roman "Herkunft", eine autobiografische Geschichte über seine wahnsinnige Familie, und der Westberlin-Slapstick "Mein Leben als Affenarsch" über das merkwürdige Inseldasein in der geteilten Stadt in den Achtzigern. Roehler ist als Regisseur wie als Autor ein großer Komiker, und wie allen großen Komikern ist es ihm mit seinem Humor todernst. Das hat bisweilen Irritationen bei Kritikern, Zuschauern und Lesern ausgelöst, weil er es natürlich grundsätzlich übertreibt mit dem Sex und dem Slapstick und den Perversionen und den Depressionen. Dafür besitzen seine Werke selbst dann einen rasenden Pulsschlag, wenn sie mal danebengehen - und von wie vielen deutschen Künstlern kann man das behaupten, gerade im Kino?

"Selbstverfickung" ist ein Buch, das man künftig bei jedem Stehempfang auf der Berlinale aus der Sakkotasche ziehen kann

An seiner Familie, vor allem an den Eltern - der Schriftstellerin Gisela Elsner und dem Lektor und Schriftsteller Klaus Roehler - hat Roehler sich jahrelang abgearbeitet; vor allem an ihren fast schon schablonenhaften Linksradikalisierungskarrieren im verrauchten deutschen Kulturbetrieb der Sechziger- und Siebzigerjahre.

In der "Selbstverfickung" ist er selber dran, oder zumindest eine fiktiv sublimierte Ungeziefer-Version von ihm. Der Autor behauptet am Ende zwar, dies sei keine Autobiografie, aber es ist eben auch nicht keine Autobiografie. Gregor Samsa lässt die Filme seines Lebens Revue passieren, und auch wenn sie nicht namentlich genannt werden, bekommt man doch eine indirekte Selbsteinordnung von Roehlers Karriere serviert, vom ersten großen Erfolg mit der "Unberührbaren" über die ersten Großproduktionen mit "Elementarteilchen" und "Jud Süß - Film ohne Gewissen" bis zur Besinnung aufs zweite Standbein mit der Schriftstellerei.

Figuren wie Bernd Eichinger, die zwar nicht als Bernd Eichinger vorgestellt werden, aber trotzdem mit einer gewissen Eichingerhaftigkeit präsent sind, geistern durch die Geschichte, zugespitzte, karikierte Versionen ihrer selbst - so wie Samsa auch eine radikale Roehlerdystopie ist. "Selbstverfickung" ist deshalb ein Buch, das man künftig bei jedem Stehempfang auf der Berlinale aus der Sakkotasche ziehen kann, um sich mit den zornigen Aphorismen zur deutschen Filmbranche über eben diese hinwegzutrösten.

Die Empörung geht dann zum Beispiel gegen den Kinophänotyp Til Schweiger: "Der Beste von ihnen verdankte seinen Erfolg den drei Millionen Friseusen aus den deutschen Fußgängerzonen, die von einem blonden deutschen Durchschnittsmann träumen wollten, der ein bisschen hübscher als der eigene war."

Oder er schreibt über den deutschen Filmnachwuchs: "Die Filmstudenten verehrten zwar den amerikanischen Autorenfilm, sahen sich hundert Mal hintereinander Taxi Driver und Deer Hunter an, aber lernen taten sie rätselhafterweise überhaupt nichts daraus. Sie blieben bei ihren dämlichen, verknöcherten, frustrierten und akademischen Problemfilmchen."

Aber wie es sich für eine anständige Selbstverfickung gehört, findet die größte Abrechnung mit der Hauptfigur selbst statt. Über Gregor Samsa heißt es: "Er war ein als Enfant terrible getarnter staatlich subventionierter Filmbeamter, der sehr gut bezahlt wurde."

Die Schlaflosigkeit und die verbalen Ergüsse des Herrn Samsa resultieren natürlich aus der moralischen Zwickmühle, dass er alle Teilnehmer des Systems als dumme Parasiten empfindet, aber selbst eines seiner prominentesten Mitglieder ist. Deshalb trägt er die vielen üppigen Gagen, die ihm das staatliche Filmfördersystem ermöglicht, frustriert ins Bordell. Denn wenn man sich ansieht, in was für Quatsch die deutschen Förderinstitute Jahr für Jahr Steuergelder versenken, ist das Geld dort vielleicht besser aufgehoben. Die armen Prostituierten müssen nicht nur Samsas Potenzprobleme, sondern auch seine Tiraden ertragen, es ist ein langes Elend, das dann wieder vom Champagner und den Schlaftabletten für ein paar Stunden beendet wird.

Eine fast schon Houellebecq'sche Variation von "Und täglich grüßt das Murmeltier" also, aber kleinbürgerliche Dramaturgiewerkzeuge wie Handlung oder Figurenentwicklung dürfen bei einem Helden, der die ganzen Drehbuchseminarsklaven zutiefst verachtet, natürlich keine Rolle spielen. Samsa trinkt und flucht und vögelt sich in diesem Buch von Tag zu Tag, alles gleichermaßen lustlos, seine Wohnung frustriert ihn, Berlin frustriert ihn. Er steigert sich in seinen Monologen immer mehr in Wahnvorstellungen hinein, die dummerweise fast alle einen wahren Kern haben.

Und die Moral von der Geschichte? Gregor Samsa wird von seinem Schöpfer zum Schluss gerade noch eine Metamorphose irgendwo zwischen Kafka und Pasolini zugestanden. Er zieht sich in seinem Weltekel in sein baufälliges Häuschen auf Sizilien zurück, und zwar auf allen vieren kriechend und krabbelnd. Als Künstler und Liebhaber mag er vielleicht nichts erreicht haben in dieser schnöden Welt, aber wenigstens seinem Namen kann er noch gerecht werden.

Oskar Roehler : Selbstverfickung. Roman. Ullstein, Berlin 2017. 272 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.

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Quelle:
SZ vom 08.09.2017
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