Süddeutsche Zeitung

Kulturschaffende gegen den Krieg:Mobilmachung der Künstler

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Aufstehen gegen das Unrecht: Unter russischen Kulturschaffenden wächst der Protest gegen den Ukraine-Krieg. Was nicht ungefährlich ist.

Von Sonja Zekri

Inzwischen haben auch die russischen Kinderbuchautoren ihre Stimme gegen den Krieg erhoben, die Illustratoren, Verleger und Pädagogen. In einem offenen Brief riefen sie den russischen Präsidenten Wladimir Putin und seine Regierung dazu auf, den Krieg in der Ukraine zu beenden. "Kinderbuchliteratur erzählt den Kindern über ihre Zukunft, sie bereitet sie auf ein anständiges Leben als Erwachsene vor", heißt es in dem Schreiben: "Wir können und werden ihnen nichts über das Leben erzählen, das Sie für sie vorgesehen haben." Russland sei in einen Krieg gezogen worden, der den Kindern die Zukunft raube, schreiben sie.

Dass sie überhaupt von "Krieg" schrieben, nicht von "Spezialoperation", ist dabei schon das erste Risiko. Das Wort "Krieg" hat die russische Medienaufsicht Roskomnadsor verboten, was zu kafkaesken Disclaimern führt. Auf der Seite des russischen Senders Echo Moskwy, der den Brief der Kinderbuchautoren veröffentlichte, heißt es, Roskomnadsor halte die Informationen über Gefechte in ukrainischen Städten und über den Tod ukrainischer Zivilisten "infolge der Handlungen der russischen Armee" für "nicht der Wirklichkeit entsprechend", ebenso wenig wie die Begriffe "Angriff", "Invasion" oder "Krieg" - die der Sender damit natürlich gerade nannte.

Der Kontinent erlebt in diesen Tagen einen Bruch aller Gewissheiten, den Anbruch einer neuen Zeit, die präzedenzlos erscheint, aber mit der schockartigen Erkenntnis der eigenen Verletzlichkeit und der völligen Neuordnung aller strategischen, militärischen, geopolitischen Optionen innerhalb von Stunden Erinnerungen weckt. Womöglich wird man auf den 24. Februar, den Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, einmal zurückschauen als Europas 9/11.

Alles Ringen um Verhandlungspositionen und inhaltliche Differenzen wie die Nato-Osterweiterung oder die Neutralität der Ukraine scheint überholt. Zieht man die propagandistischen Schlüsselbegriffe ins Kalkül, die Behauptung eines ukrainischen "Genozides" an der russischsprachigen Bevölkerung, die Notwendigkeit der "Entnazifizierung" eines Landes, dessen Präsident Selenskij Jude ist, hört man, wie russische Medien die Sanktionen gegenüber Russland wieder und wieder nicht als Boykott, sondern als "Blockade" bezeichnen wie einst um Leningrad, und beobachtet man, wie Putin am Sonntag im Beisein seines enorm bedrückt wirkenden Verteidigungsministers Schoigu und seines Generalstabschefs Gerassimow die russischen Nuklearwaffen in Alarmbereitschaft versetzt, dann geht es längst um Größeres. Im einsamen Herbst seiner Herrschaft schließt Russlands Präsident Putin rhetorisch an den glorreichen Sieg seines Landes über Nazi-Deutschland an, und niemand kann garantieren, dass seine Beschwörung eines finalen russischen Ringens mit feindlichen - diesmal: westlichen - Mächten nur Rhetorik bleibt.

Den Ukrainern hilft diese kontinentale, ja, universale Ausweitung des Krieges erst einmal nicht viel. Je mehr Waffen die alarmierten EU-Staaten schicken, darunter inzwischen auch Deutschland, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit von Hast und Härte auf russischer Seite. Nach dem verstolperten Einmarsch hat Russlands Armee wenig Interesse daran, dass die Eroberung mit einem immer besser ausgerüsteten Gegner noch schwieriger wird.

Im Zeitalter der Finsternis

Russlands Staatsfernsehen präsentiert Militärsprecher, die die Vermeidung ziviler Opfer als oberstes Ziel der "Spezialoperation" beteuern, während sich Moderatoren und Experten zugleich darüber empören, dass das ukrainische Regime seine Bevölkerung angeblich als "menschliche Schutzschilde" benutze. Es ist die Vorwegnahme künftiger Schrecken. Sollten Bilder getöteter Frauen und Kinder in Kiew oder Cherson auch in Russland ankommen, dann wären die Toten in dieser Logik nicht die Folge exzessiven russischen Waffeneinsatzes, sondern die Schuld der verbrecherischen ukrainischen Politik. In den Staatsmedien ist weiterhin die Rede von einer "Verteidigung des Donbass", als wäre nie ein russischer Panzer jenseits von Luhansk und Donezk gerollt.

Und doch wächst der Protest in Russland an, gerade unter Kulturschaffenden. Tausende Künstler und Architekten, Kuratoren und Galeristen, Kunsthistoriker und Fotografen aus dem ganzen Land haben Petitionen unterschrieben, ebenso 250 russische Comedians - wenn man so will: Berufskollegen des einstigen Komikers Selenskij. Es sei ihre Lebensaufgabe, Menschen andere Perspektiven nahezubringen und sie zum Lachen zu bringen. Krieg aber wecke einzig Gefühle von Angst und Ohnmacht, "egal aus welcher Perspektive".

Der ewig dissidentische Rock-Star Juri Schewtschuk rief zum Frieden auf. Der Geiger und Dirigent Wladimir Spiwakow sprach sich gegen den Krieg aus, das Moskauer Tschechow-Theater und der Generaldirektor des Bolschoi-Theaters, Wladimir Urin. Der Krimischriftsteller Boris Akunin schrieb in der unabhängigen Internet-Plattform Medusa, ein neues, furchtbares Zeitalter sei angebrochen, furchtbar für die Ukrainer, furchtbar für die Russen, die von einem "Wahnsinnigen" regiert würden, furchtbar selbst für jene, "die jubeln": "Putinland und Russland ist nicht dasselbe", so Akunin: "Aber die Welt wird zwischen den beiden nicht mehr unterscheiden."

Die "Garasch", das Moskauer Museum für Zeitgenössische Kunst hat erklärt, es werde die Arbeit einstellen und alle Ausstellungen verschieben bis zum Ende der "menschlichen und politischen Tragödie" in der Ukraine. Man wolle nicht die "Illusion von Normalität" unterstützen. Die "Garasch" gehört Dascha Schukowa, der Ex-Frau des Milliardärs Roman Abramowitsch, der gerade die Leitung des FC Chelsea abgegeben hat.

Im Moskauer Kunstforum GES 2 ein paar Hundert Meter von der "Garasch" entfernt an der Moskwa, hat der isländische Künstler Ragnar Kjartansson seine Eröffnungsausstellung "Santa Barbara" vorzeitig beendet. GES 2 war erst im November - nach einem Besuch Putins - mit gigantischem Aufwand an Medien und Material eröffnet worden.

Moskauer Bars wie die "Strelka Bar", Klubs wie "Powerhouse" und unabhängige Kultureinrichtungen wie "Bumaschnaja Fabrika" wollen für die Dauer des Krieges keine Konzerte mehr geben oder ihre Einnahmen spenden. Auf dem Ausstellungsgelände BDNCh im Norden der Stadt sind alle Veranstaltungen zum bevorstehenden Masleniza-Fest abgesagt.

Man kann das als Krokodilstränen abtun, als späte Reue von Kulturschaffenden, die Putin nicht verhindert und es sich oft ganz gemütlich eingerichtet haben. Und natürlich spricht hier der westlich orientierte, mobile, urbane Teil der Gesellschaft, Künstlerinnen und Künstler, die Forschenden, die in Jahrzehnten Beziehungen zu westlichen Universitäten, Theatern und Museen aufgebaut haben und neben allem Entsetzen über Russlands Angriff auf das Nachbarland auch ganz direkt getroffen sind.

Auf Eis legen? Das wäre das Schlimmste

Wer in der Provinz wohnt und nie die Möglichkeit hatte, nach London oder Paris zu reisen, wer außer den staatlichen Medien wenig mitbekommt, der sieht keinen Grund für Empörung.

Kreml-Kostgänger wie der Regisseur Nikita Michalkow haben den anwachsenden Protest unter den Kulturschaffenden ohnehin längst diffamiert. Seinen Künstler-Kollegen gehe es gar nicht um die Ukraine, so Michalkow, sie "heulten" aus Angst vor Sanktionen, schließlich besäßen sie Haus und Yacht im Ausland, was ein interessantes Verständnis von den Einkommensverhältnissen russischer Künstler verrät.

Man denkt an Maxim Kantors hellsichtiges Buch "Rotes Licht" über die Krim-Annexion 2014, in dem eine russische Schriftstellerin im Fernsehen flötet: "Der russische Intellektuelle von heute muss wieder lernen, was Wahrheit ist. Wahrheit heißt Einigkeit."

Wie stark diese Einigkeit erodiert, wie tief der Riss nicht nur durch Russlands kulturelle Community geht, sondern auch durch die Gesellschaft, die auf einen Krieg gegen den Nachbarn und Särge mit russischen Soldaten nie vorbereitet wurde, dürfte eine der wichtigsten Fragen der nächsten Zeit sein.

Noch gibt es keinerlei Anzeichen für Verwerfungen an der Spitze, weder in den politischen noch in den wirtschaftlichen Eliten, geschweige denn in den Streitkräften. Wenn jedoch Jewgenij Roisman, Ex-Bürgermeister von Jekaterinburg, den Einmarsch in die Ukraine als "Verrat am eigenen Volk" bezeichnet, wenn sich nicht nur die Tochter des Putin-Sprechers Dmitrij Peskow, Elisaweta, sondern auch die Tochter des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow, Aischat, gegen den Krieg äußern, dann ist das nicht der Anfang vom Ende der Putin-Herrschaft, aber dennoch erstaunlich.

Es sind Tage der Solidarität, aber auch der Bekenntnisse. Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat die Theater aufgefordert, mehr ukrainische, russische und belarussische Stücke ins Programm zu nehmen. Die Empörung über Valery Gergiev, Putin-naher Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, hält an. Zwar hatte er sich zum Krieg noch gar nicht geäußert, aber seine Auftritte in der Mailänder Scala und in der Hamburger Elbphilharmonie stehen dennoch in Frage. Auch der Münchener Oberbürgermeister Dieter Reiter hat schon Konsequenzen angedroht. Kirill Petrenko und Anna Netrebko haben sich hingegen mit Friedensbotschaften gemeldet.

Und Hermann Parzinger, der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, will Projekte mit Russland erst einmal auf Eis legen. So einleuchtend das zunächst klingt: Für viele russische Künstlerinnen und Künstler dürften sich damit schlimmste Befürchtungen bewahrheiten.

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