Süddeutsche Zeitung

Berlinale-Eröffnung:Hach, dieses Retrogefühl

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Sentimental, aber nicht tieftraurig erzählt Philippe Falardeaus "My Salinger Year" vom Erwachsenwerden. Sein Film ist damit eine Berlinale-Eröffnung, die niemandem die Partylaune verderben wird.

Von Susan Vahabzadeh

Joanna, die Heldin im Film "My Salinger Year", dem Eröffnungsfilm der Berlinale, will nach New York City. Sie will dort Schriftstellerin werden und in einem heruntergekommenen Apartment leben am Anfang des Films, und manchmal will sie ein Dessert für zwölf Dollar essen im Waldorf Astoria, wie sie es manchmal als Kind getan hat mit ihrem Vater, wenn er mit ihr nach New York fuhr. Als sie ganz allein den teuren Käsekuchen isst, erklingt im Hintergrund "Moon River", als wäre sie Holly Golightly.

Der Film spielt 1996, also nicht ganz so weit zurück wie "Frühstück bei Tiffany", aber ein Kostümfilm ist er dennoch. Seit einer Weile spielen alle New-York-Filme in der Vergangenheit, als hielte die Gegenwart keinerlei Inspiration mehr parat. Warum ist das eigentlich so? Als wäre New York ein verlorener Ort. Vielleicht spricht daraus auch nur eine Sehnsucht nach übersichtlicheren, hoffnungsvolleren Zeiten. Ob es die je gegeben hat? Wenn Holden Caulfield in "Der Fänger im Roggen" unbedingt wissen will, was aus den Enten auf dem See im Central Park im Winter wird, dann hat auch er Angst davor, dass er nicht weiß, was die Zukunft bringt.

Philippe Falardeaus Film erzählt ebenfalls von zeitlosen Emotionen - von den Ängsten und der Orientierungslosigkeit auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Wie die Literaturagentin Margaret (Sigourney Weaver) und ihre neue Assistentin Joanna umeinander herumschleichen und sich dann doch annähern, das wirkt ein bisschen so, als habe Falardeau die Konstellation von "Der Teufel trägt Prada" mit Wärme und ein paar klügeren Menschen ausstatten wollen.

Margaret Qualley spielt Joanna, die wiederum eine reale Figur ist: "My Salinger Year" basiert auf einem Buch von Joanna Rakoff, so einer Art Erinnerungsroman: 1996 heuerte Rakoff, frisch von der Uni, bei einer Literaturagentin an. Ein Traditionsbetrieb, der sich auch um die Angelegenheiten eines Klienten kümmerte, der zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als vierzig Jahren nichts mehr veröffentlicht hatte: Kultautor J. D. Salinger. Sein einziger Roman, "Der Fänger im Roggen", war schon 1951 erschienen, und Salinger blieb bis zu seinem Tod ein unzugänglicher Kauz, der nur gelegentlich veröffentlichte und für kaum jemanden zu sprechen war. Die Beantwortung von Leserpost stellte er 1963 ein - so erzählt es zumindest Joanna Rakoff, deren Job es im Film nun wird, die Post zu lesen, mit Standardbriefen zu beantworten und dabei die Augen aufzuhalten, ob irgendetwas gefährlich klingt.

Der Film ist ein wenig sentimental, aber nicht tieftraurig, und weit weg von der Gegenwart

Joannas Tage drehen sich nun um all die Menschen, die in Salinger einen Seelenverwandten vermuten, der sie aber nie anhören wird, bis ein Junge, der Briefe schreibt, Holden Caulfield und Salinger, mit dem sie gelegentlich telefoniert, in eine einzige Fantasiefigur zusammenfließen. Margarets Agentur ist ein Schrein für frühere Klienten, Agatha Christie und F. Scott Fitzgerald, vor allem aber für Salinger. Dessen Foto hängt im holzgetäfelten Gang - das eine, das auch auf allen Büchern hinten drauf ist - und wird sogar mit einem Lämpchen bis in den Abend erleuchtet, während im Off die Schreibmaschinen klappern. Dass dieser eine Klient wichtiger ist als alle anderen, passt ganz gut zu dem Retrogefühl, das "My Salinger Year" beherrscht: Die Mission ist es, von Salinger alles fernzuhalten, was andere Schriftsteller wollen - Angebote von Verlegern und Filmproduzenten, Interview-Wünsche, Aufmerksamkeit.

"My Salinger Year" wirft nicht mit Verweisen auf "Der Fänger im Roggen" um sich, aber Joanna, die den halben Film über das Buch noch gar nicht gelesen hat, empfindet, was daran beschrieben wird: die jugendliche Zerrissenheit zwischen Verzweiflung und Aufbruchsstimmung. Joanna will schließlich Schriftstellerin werden - aber sie weiß nicht, wie sie es anfangen soll; oder wie sie ihrem Freund Karl erklären soll, dass sie in New York jetzt mit einem sozialistischen Buchhändler zusammenlebt, statt weiterhin mit Karl in Berkeley auf die Uni zu gehen.

Als Eröffnungsfilm ist "My Salinger Year" eine ganz gute Wahl, ein wenig sentimental, aber nicht tieftraurig, und vor allem nicht so nah dran an den Ängsten von heute, als dass es den Premierengästen die Partylaune verderben könnte. Es regnet in Berlin zur Eröffnung der Berlinale, und auf einer Sandfläche am Rand des Potsdamer Platzes hat sich eine Pfütze gebildet, in der etwa zwanzig Tauben fröhlich baden, als wär's ein heißer Sommertag. Wahrscheinlich halten es die Enten im Central Park genauso, wenn der Winter kommt - sie richten sich darauf ein, dass jetzt vielleicht bald der See gefriert. Und vertrauen darauf, dass irgendwann wieder Sommer ist.

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SZ vom 21.02.2020
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