Süddeutsche Zeitung

Nach dem Fall von Kabul:Hätten sie doch besser zugehört

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Sieben Werke zu Afghanistan, die es wert sind, noch einmal aus dem Regal geholt zu werden.

Von SZ-Autoren

Sie war die große alte Dame Afghanistans: Nancy Hatch Dupree. Ob im Bürgerkrieg oder in der Zeit der ersten Taliban-Herrschaft, in Kabul lag "An historical guide to Afghanistan" noch immer in jedem Buchladen. Ein schon damals herrlich altmodisches Reisebuch, eine Art Baedeker zu einem Land, in dem damals noch kein Krieg herrschte, in dem Touristen eher selten waren und die durchreisenden Hippies und Kiffer außer dem Grammpreis der Haschischrationen über das Land wenig wussten. Die Afghano-Amerikanerin Nancy Hatch Dupree wusste hingegen. Landeskunde, Geschichte, Kunst. Wunderbare Fotos, zusammengestellt von einer Historikerin, die das Land und die Region - Indien, Pakistan, Afghanistan - bestens kannte. Ihr Afghanistan-Buch hatte sie im Auftrag des afghanischen Tourismusministeriums geschrieben, es erschien 1977. Aber auch heute, in einer Zeit, in der sich jeder Reisende sein Zielland mit "Lonely Planet" oder dem "Rough Guide" digital auf dem Mobiltelefon erschließen kann, macht dieses Buch noch richtig großen Spaß. Warum? Weil es so eigenartig ist und fast so für die Ewigkeit wie Afghanistan selbst. Verstorben ist Nancy Hatch Dupree mit 89 Jahren im Jahr 2017, begraben ist sie: in Kabul. Tomas Avenarius

Nancy Hatch Dupree: An historical guide to Afghanistan, Afghan Air Authority/Afghan Tourist Organisation, Kabul 1977, 492 Seiten, antiquarisch

"Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen" ist ein zutiefst menschliches, berührendes Buch und gleichzeitig ein Horrortrip durch Jahrzehnte des Krieges. Siba Shakib, deutsch-iranische Autorin und Regisseurin, beschreibt die afghanische Tragödie am Leben einer Frau, Shirin-Gol, die sie in einem iranischen Flüchtlingslager kennengelernt hat, von deren Kindheit vor der sowjetischen Invasion 1979 bis zum Sturz der Taliban-Schreckensherrschaft 2001. Shirin-Gol hat keine Chance auf ein menschenwürdiges Leben, sie wird zum Symbol für das Schicksal ihres Landes und vor allem seiner Frauen, denen die Autorin bei seinem Erscheinen 2002 endlich eine Stimme gab. Ihr Buch wurde weltweit zum Beststeller. Siba Shakib hat die westliche Intervention zunächst als Hoffnungsschimmer begrüßt, Nato und Bundeswehr in Fragen zum Land und seinen Menschen beraten. Hätten sie doch besser zugehört. Das Buch liest sich heute wie ein Menetekel, was Afghanistan und seinen Menschen erneut bevorsteht: "Ich sehe zu, wie Menschen aus einer Heimat kommen, die nie eine gewesen ist, und in eine Heimat zurückkehren, die nie eine werden wird. Frauen, Kinder, Männer, die nichts kennen, als immerzu auf der Flucht zu sein." Joachim Käppner

Siba Shakib: Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen. Random House E-Book, 2001, 320 Seiten, 9,99 Euro.

Als die Taliban im November 2001 aus Kandahar fliehen mussten, hinterließen sie einen Schatz, der mehr über sie verriet, als ihnen bewusst gewesen sein muss. In den Fotostudios der Stadt, die sie erst geschlossen - Bilderverbot! -, dann wieder geöffnet hatten - Ausweise! -, hatten einige von ihnen persönlichere, aufwendigere Porträts machen lassen und nie abgeholt. Aus diesen Aufnahmen hat der deutsche Fotograf Thomas Dworzak den verblüffenden kleinen Bildband "Taliban" kompiliert. Dass die Kämpfer für die Kamera mit Pistolen und Kalaschnikows posierten, war unbedingt zu erwarten. Aber mit Blumenschalen? Notizblock und Bleistift? Einige ließen günstige Schwarz-Weiß-Aufnahmen kolorieren, was glamouröse Vintage-Effekte wie bei Stummfilm-Stills ergab. Andere gruppierten sich vor dem Hintergrund idyllischer Alpen-Chalets oder reetgedeckter Dächer. Viele schwärzten sich mit Kajal die Augen und zauberten sich mit Make-up zarte Röte ins Gesicht. Schmiegten die Schultern aneinander, hielten Hand. Es sind träumerische Aufnahmen voller Sinnlichkeit und Männererotik. Aber es liegt auch eine Sehnsucht über diesen Bildern, und wenn man so will, eine Vergeblichkeit. Deren Ursache und deren Folgen wiederum waren niemand anders als die Taliban selbst. Sonja Zekri

Thomas Dworzak: Taliban. Fotobuch-Edition, Freiburg 2003, 128 Seiten, 24,95 Euro.

Ahmed Rashid hat seine eigene Vergangenheit als Widerstandskämpfer. Gleich nach seiner Studienzeit an der Cambridge University zog es ihn Ende der 60er-Jahre in die Hügel Belutschistans, wo er zehn Jahre lang all das bekämpfte, was er als Unheil für seine Heimat ansah. Es waren Lehrjahre, die Rashid teuer bezahlte. Sein Widerstand gegen die pakistanische Militärdiktatur zahlte sich jedenfalls nicht aus. So verlagerte er sich auf ein anderes Geschäft: das Schreiben. Ahmed Rashid war der unbestritten beste Kenner der Region Afghanistan und Pakistan, ehe sich nach dem 11. September 2001 der Rest der Welt dafür interessierte und Hunderte neuer Experten generierte. Rashid darf für sich in Anspruch nehmen, der Lehrmeister all jener Taliban-, Afghanistan- und Paschtunen-Deuter zu sein - die Urquelle sozusagen. Seine Bücher "Taliban" und "Sturz ins Chaos" sind Referenzwerke mit anhaltender Gültigkeit. Rashid selbst, der mindestens so gut spricht, wie er schreibt, wurde zum gefragten Redner und Gesprächspartner in Regierungszentralen, Universitätsforen und Geheimdienstzirkeln. Die New York Times schrieb einmal, Rashid habe sich über all die Jahre als ein "Prophet dieser Region erwiesen, allerdings mehr vom Typ Cassandras". Seine intimen Kenntnisse der Taliban, seine persönlichen Zugänge zu allen Kriegsfraktionen und sein unbestechlicher Mut haben ihm dann doch bleibende Verdienste beschert. Heute lebt er, 73-jährig, in Lahore. Stefan Kornelius

Ahmed Rashid: Sturz ins Chaos. Leske, Düsseldorf 2010, 340 Seiten, 19,90 Euro.

Auf einmal ist das alles wieder wichtig. Ethnische Zugehörigkeiten, etwa Hasara oder Nicht-Hasara. Bartlänge. Pick-ups. Sonnenbrillen. Dabei ist Afghanistan nicht nur dieses Land, das Land der Taliban, sondern auch die Zeit davor und danach, die Granatapfelbäume, das Rosenwasser-Eis, die Dächer des Wasir-Akbar-Khan-Viertels in Kabul. Und dass die Welt den Reichtum dieses zweiten Afghanistan kennengelernt hat, ist das große Verdienst von Khaled Hosseini. Sein Roman "Drachenläufer" ist die Coming-of-Age-Geschichte des zwölfjährigen Amir und seines Hasara-Freundes Hassan, ein Epos von Freundschaft, Verrat und Versöhnung über die Generationen hinweg. "Drachenläufer" erschien 2003, wurde in 34 Sprachen übersetzt, millionenfach verkauft. Gerade erst war das Land von den Taliban befreit worden, aber was wusste die Welt schon über Afghanistan? Was weiß sie heute? Mag sein, dass die Figuren höchstens mittelfein gezeichnet sind, die Dialoge bessere Kalendersprüche und manche Szene outright Kitsch. Die Vorurteile über Afghanistan sind jedoch auch nicht subtiler. Sonja Zekri

Khaled Hosseini: Drachenläufer. Fischer, Frankfurt 2019, 384 Seiten, 12 Euro.

"Nach monatelangem Kampf gegen einen Feind, der Hunderte Meter entfernt blieb, lässt sich das Ausmaß des Schocks, ihm auf einmal auf 20 Meter Entfernung gegenüberzustehen, kaum übertreiben. Der Gatigal-Gebirgsausläufer ist in Mondlicht getaucht, und in den silbrigen Schatten der Stechpalmen sieht er feindliche Kämpfer, die Josh Brennan den Berghang hinunterschleifen. Er leert sein M4-Magazin auf sie und läuft los zu seinem Freund. Ein Taliban-Kämpfer fällt tot zu Boden, der andere lässt Brennan los, er entkommt bergab zwischen den Bäumen." Die lakonische und doch unter die Haut gehende Reportage des Autors Sebastian Junger: "War. Ein Jahr im Krieg" beschreibt Leben, Kampf und Sterben amerikanischer Soldaten im Korengal-Tal, einem der entlegensten und exponiertesten Außenposten der US-Armee in Afghanistan, dicht an der pakistanischen Grenze. Junger hat 2007 Monate dort auf dem Stützpunkt verbracht, näher kann ein Journalist diesem Krieg nicht kommen. Es ist ein Mikrokosmos des Wahnsinns und extremer Gewalt, in dem sich bereits die Sinnlosigkeit des Krieges erkennen lässt. Der Soldat Brennan stirbt im Feldhospital. Bald darauf gibt die US-Armee das Korengal-Tal auf. Joachim Käppner

Sebastian Junger: War. Ein Jahr im Krieg. Pantheon, München 2012, 336 Seiten, antiquarisch.

Zinkjungen hießen die Gefallenen in dem Afghanistankrieg, den die Sowjetunion in den Achtzigern aus heute fast vergessenen Gründen geführte hatte. Zink, weil die verschweißten Särge der sowjetischen Armee damals aus dem Metall bestanden, und Jungen, weil die Soldaten oft gerade 18 Jahre alt waren. Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch hat nach dem Krieg mit Dutzenden Zeitzeugen gesprochen - Feldwebeln, Krankenschwestern, Pionieren, Müttern - und ist 1986 als Journalistin nach Afghanistan gereist. Die Protokolle und ihre eigenen Erlebnisse hat sie zu kurzen, persönlichen Berichten verdichtet. Die Fakten stimmen, ihre Zusammenstellung ist neu. Liest man Alexijewitsch heute, sind es vor allem die Details, die wie aus dem Jetzt wirken: Eine Frau träumt von Flügen mit Militärmaschinen zwischen Taschkent und Kabul, Soldaten zweifeln am Sinn ihres Einsatzes, Kinder, die der Krieg versehrt hat, stehen in der Wüste am Straßenrand. Es geht nicht um akkurate Geschichtsschreibung, sondern um so etwas wie eine Ideengeschichte der Emotionen, um das, was Einzelne schon vor mehr als 30 Jahren in Afghanistan erlebt haben. Nicolas Freund

Swetlana Alexijewitsch: Zinkjungen. Suhrkamp, Berlin 2016, 317 Seiten, 11 Euro.

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