Süddeutsche Zeitung

Kinofilm "La flor":Ewiges Erzählen

Lesezeit: 3 min

Von Fritz Göttler

Ein Film, der sich nicht fassen lässt, unbeschreiblich, was in ihm sich ereignet, was er mit einem macht in der Zeit, die man mit ihm verbringt, 13 Stunden, 28 Minuten. Viele Jahre hat der argentinische Filmemacher Mariano Llinás mit Freunden und Kollegen und Akteuren an "La flor" gearbeitet, nicht am Stück, aber immer wieder haben sie sich zusammengefunden und gedreht. Der Film wurde auf den Festivals in Locarno und Berlin in konzentrierten Block-Vorführungen gezeigt, und so wird er nun in den nächsten Wochen bei uns zu sehen sein, am Freitag auch in München, im Werkstattkino. Aber ein Durchlauf kann natürlich nicht genug sein für das Werk, für all die vielen Pfade und die Art, wie sie sich verzweigen.

Die Blume dieses Films hat Widerhaken, sie gleicht einer Harpune mit vier Zacken. Der Filmemacher selbst entwirft sie für uns zu Beginn seines Werks, er sitzt in einer Allee an einem Steintisch und skizziert in klaren Strichen seinen Film: Sechs Geschichten sind es, die nichts miteinander zu tun haben. Vier davon haben einen Anfang, aber kein Ende, sie hören mittendrin auf - das sind die vier Zacken, die er aufwärts malt -, die fünfte hat einen Anfang und ein Ende - dafür malt er unter die Zacken einen Kreis -, die letzte beginnt in der Mitte und beendet den Film - dafür zieht er einen Strich unter dem Kreis nach unten. Und während er den Film skizziert, der in diesem Moment noch nicht existiert, blättert er ein dickes Notizbuch durch, mit Zeichnungen und Sätzen: "Ich kam zur Welt, sehr jung in eine sehr alte Zeit."

Anfang des Jahrhunderts, erzählt Mariano Llinás in einem großartigen Interview in der Zeitschrift Cinemascope, war die Fiktion in großen Schwierigkeiten, stark gefährdet, das hat ihn schwer beschäftigt, bis zur Besessenheit. Eine Besessenheit, die er mit den großen südamerikanischen Erzählern des magischen Realismus teilt, von Borges über Márquez zu Cortázar. Endloses Erzählen! 2006 hat Llinás dann die vier Frauen gesehen, die nun seinen Film über viele Stunden gestalten und tragen, sie spielten in einem Stück mit dem Titel "Neblina" - Nebel, Dunst -, und er wusste, "diese vier könnten die Fiktion an neue Orte führen". Zusammen bilden sie die Gruppe "Piel de Lava" - Laura Paredes, Elisa Carricajo, Pilar Gamboa, Valeria Correa -, sie übernehmen immer neue Rollen in den komplexen Gespinsten des Films - aber im Grunde handelt der Film immer nur von eben diesen Frauen. Aus ihren Gesten, Blicken, Tränen, ihrem Schweigen ist dieser behutsame Film gebaut.

Sie sind keine konsequenten, in sich geschlossenen Figuren, eher Schemen, die sich von Episode zu Episode verwandeln. Llinás hasst die Psychologie und die narrativen Restriktionen, die sie dem Erzählen auferlegen, für ihn sind die Figuren Erscheinung, Klang, eine Art des Aussehens. Elisa Carricajo ist anfangs eine emotional verstörte Wissenschaftlerin und wird in der nächsten Episode die Führerin eines Agentenrings, Gamboa beginnt als eine Sängerin und Songschreiberin, wechselt zu einer sprachlosen Killerin.

Llinás liebt die Kinogeschichte, und die Episoden variieren altbekannte Genres des Kinos, vom Serial bis zum Musical, Kalter Krieg und Dschungelfilm, Hitchcock und Fritz Lang, man findet Echos in jeder Einstellung und kann sich an den Bruchstellen mühelos Fehlendes ergänzen aus der Erinnerung. Der erste Teil, sagt er, ist eine Art B-Movie, wie sie die Amerikaner einst mit geschlossenen Augen machen konnten und jetzt nicht mehr hinkriegen. Ein Cineasten-Traum. Es gibt eine geheimnisvolle Mumie, deren Fluch wissenschaftlich untersucht werden soll, dann kommen diverse mad scientists und Pharmabosse zu Wort, die sich intensiv mit Skorpionen befassen und mit der Frage, was man mit dem Gift aus ihren Stacheln machen könnte, um die alte Frage der Wissenschaft, die die Quacksalberei nicht mehr im Auge hat, zu klären - die nach der ewigen Jugend. Und man merkt, das ist genau die Frage, die auch das Kino beschäftigt, wieder und wieder.

Die fünfte Episode ist an Jean Renoirs wunderbarem kleinen Film "Partie de Campagne" orientiert - keine Hommage, versichert Llinás, das wäre eine fade Form der Ehrerbietung. Nein, ein Diebstahl, ein Insult. Die Brutalität der Kunst, die schon die Maler praktizierten. Das Kino und die Malerei durchdringen einander für Llinás, für ihn ist Hitchcocks "Vertigo" - auch dessen Echo durchaus in vielen Einstellungen zu spüren - als Gemälde moderner und schöner als der ganze Picasso. Und es steckt eine Menge Manet in "La flor".

Einmal zieht eine Gruppe Filmemacher los, um Bäume zu filmen, und da gibt es gleich eine Totale von einem dichten Wald. Mittendrin scheint sich die Perspektive nach oben zu schieben ... aber dann merkt man, es ist die Sonne, die sich kraftvoll über die Baumwipfel hinunterschiebt. Ein Film, der an uns arbeitet, von Bild zu Bild.

La flor, Argentinien 2018 - Regie, Buch: Mariano Llinás. Kamera: Agustín Mendilaharzu. Schnitt: Alejo Moguillansky, Agustín Rolandelli. Artdirection: Sofía Marramá. Mit: Elisa Carricajo, Valeria Correa, Pilar Gamboa, Laura Paredes, Esteban Lamothe, Pablo Seijo. Grandfilm, 13 Stunden, 28 Minuten.

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SZ vom 31.07.2019
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