Süddeutsche Zeitung

Kino vor Corona:Szenen aus einer anderen Zeit

Lesezeit: 6 min

In Zeiten von Corona wirken ganz normale Kinoszenen plötzlich wie aus einem Horrorfilm und Menschen, die sich küssen und drängeln, lösen Unbehagen aus.

Von Susan Vahabzadeh

Schon ganz am Anfang, als alle noch dachten, Ausgangsbeschränkungen, wie sie es in China gegeben hat, seien bei uns unvorstellbar, gab es Stimmen, die sagten: Die Welt wird nach Corona eine andere sein. Seit am Mittwoch die neuen Beschlüsse von Bund und Ländern bekannt gegeben wurden, ist zumindest eines klar: Die Welt hatte nicht einfach nur einen kleinen Aussetzer. Wir müssen uns an eine neue Normalität gewöhnen. Verhüllte Gesichter werden unser Alltag sein, und noch lange wird in jeder U-Bahn die Angst mitfahren; und wenn man sich noch vor zwei Wochen vorstellte, im Mai wieder ganz normal all die aufgeschobenen Besorgungen in den Innenstädten erledigen zu können, ist inzwischen klar, dass es keine Rückkehr gibt zu einem normalen Tag, wie er noch im Januar gewesen wäre.

Kino, Konzerte, gemeinsames Klamotten-Shopping: Das wird es lange nicht mehr geben. Nach Corona ist noch sehr weit weg. Und manche Dinge kommen vielleicht nie mehr wieder, weil sie bis dahin nicht mehr zu unseren Gewohnheiten gehören und Platz machen mussten für neue.

Zu den Dingen, die jetzt mehr Platz beanspruchen dürfen, zählen die Streamingdienste - sie machen sich auch da breit, wo es bis vor Kurzem noch das Kino gab, und an den Börsen erleben ihre Aktien einen Quarantäneboom. Werden die Kinogänger in die Säle zurückkehren, wenn sie jetzt erst einmal monatelang auf dem Sofa gesessen haben? Wer weiß. Das Argument des Economist ist der Mangel an frischen Inhalten - es werden noch ein paar Filme aus der Vor-Corona-Ära schneller ins Netz gestellt als geplant, aber überall herrscht für Filme und Serien Drehstopp, und das bedeutet, dass die Zuschauer die Inhalte immer wieder aus demselben Topf herausfischen. Alles, was in diesem Topf drin ist, stammt aus der Welt von früher, und wie immer unsere neue Normalität sich gestalten wird - alles von vorher wirkt schon jetzt merkwürdig fremd.

Scrollt man durch die Listen der Download-Charts, dann wirkt das alles auch gleich so eigenartig unbeschwert - ob nun "Mary Poppins", "Le Mans 66" oder "Das perfekte Geheimnis", alles lässt an Dringlichkeit missen. Was von vorher stammt, ist automatisch Eskapismus, eine Flucht zurück. Früher - also Anfang März - sahen nur richtig alte Filme aus wie aus der Vergangenheit, jetzt aber sind selbst "Die Känguru-Chroniken", kurz vor der Quarantäne im Kino angelaufen und nun vorzeitig als Streaming gestartet, aus einer anderen Zeit. Die einzigen Bilder, die die Gegenwart spiegeln, sieht man in den Nachrichten.

Einer beißt im Werbespot vom Pausensnack des anderen ab - das ist plötzlich ein Übergriff

Diese Zäsur lädt Gesten, Bilder, Interaktionen mit neuer Bedeutung auf. Die Menschenmengen, welche die Rennstrecken in "Le Mans 66" säumen, wirken plötzlich auf völlig neue Art gefährdet - sie stehen verboten dicht zusammen, dass ein Rennwagen von der Piste abkäme, wäre noch ihr geringstes Problem. Menschen in der Kneipe, die sorglos aus Biergläsern trinken in den "Känguru Chroniken": Wie wurden diese Gläser gespült? In der Werbung: ein Fernsehspot, in dem sich Menschen in einem Aufzug zusammendrängen, und dann beißt einer vom Pausensnack des anderen ab - plötzlich ein gefährlicher Übergriff. Die Freunde, die sich zum Abendessen in "Das perfekte Geheimnis" treffen, auch ein Film, der kürzlich noch aktuell war, begrüßen sich mit Küsschen und Umarmungen, bevor sie ganz nah beieinander am Tisch sitzen, und dauernd fassen sie einander an. Ganz ernste Frage: Wird das jemals wieder so sein, oder wird sich die Menschheit in einem Jahr so sehr an die Distanz gewöhnen, dass Berührungen völlig ins Private verlagert werden?

In der Psychologie gibt es eine Debatte darüber, ob das Wissen die Wahrnehmung verändert, ob zwei Menschen tatsächlich dasselbe sehen - oder ob Wissen das Gesehene verändert. Ist unterschiedliche Wahrnehmung nur eine Frage der Aufmerksamkeit? Die Aufmerksamkeit wird im Kino gelenkt - wie man das, was man sieht, empfindet, ändert sich mit der Zeit.

Sehgewohnheiten ändern sich, das tun sie immer. Zum Teil wird tatsächlich die Wahrnehmung geschärft - die Tricktechnik im allerersten "Jurassic Park"-Film von 1993 war damals bahnbrechend, sieht man sie heute wieder, wirken die Dinosaurier seltsam flach. Aber Filme und Serien arbeiten auch oft mit Codes und Konventionen, die bestimmen, was ein Zuschauer als bedrohlich, was als Symbol von Idylle empfindet. Ein Wald in der Nacht macht Angst, weil wir aus der Wirklichkeit wissen, dass man im Dunkeln Gefahren nicht sieht, die Angst haben wir von unseren Vorfahren geerbt. Wenn aber Geister und Gespenster als durchscheinende Silhouetten in weißen Gewändern dargestellt werden, so versteht zwar jeder, was gemeint ist - aber diesen Reflex haben uns die Literatur und das Kino erst anerzogen.

Das geht auch mit Musik. Klar gibt es Töne und Tonfolgen, die von sich aus schon einmal die Nerven angreifen und deswegen besonders gut dazu geeignet sind, schreckliche Szenen zu betonen und zu untermalen. Aber dass ein bestimmtes "Iek, iek, iek" der Code geworden ist für sich heranschleichende, mit Messern bewaffnete Psychopathen, die sich für ihre eigene Mutter halten, liegt daran, dass die betreffende Szene aus Hitchcocks "Psycho" zum cineastischen Allgemeinwissen gehört und tausendfach zitiert wurde.

Es scheint im Augenblick eine Verschiebung der Codes zu geben, die Dinge haben eine andere Bedeutung, und ganz normale Szenen wirken plötzlich wie aus einem Horrorfilm. Die Bilder von den Wahlen in Wisconsin in der vergangenen Woche sind ein gutes Beispiel dafür: Sie zeigen Menschen, die vor den Wahllokalen warten, um in den Vorwahlen und für einen Sitz im obersten Gerichtshof von Wisconsin abzustimmen, nachdem der Supreme Court der USA eine Verschiebung der Wahlen abgelehnt hatte. Vielen Leuten wurde bei dem Anblick mulmig, obwohl man ja eigentlich nur Menschen, viele mit Tüchern vorm Gesicht, im Freien hintereinander stehen sieht. Aber wir wissen eben, dass diese Menschen ihr Leben riskieren.

Wir teilen eine gemeinsame Seherfahrung, stark geprägt vom amerikanischen Kino

Wie schnell gewöhnen wir uns an neue Bedeutungen? Die Maske an sich ist ja schon ein Bild, das neu besetzt wurde - noch vor wenigen Wochen war sie an und für sich ein bisschen bedrohlich, im Horror- und Kriminalfilm ist sie auch ein Code, sie erzeugt Angst, weil man den Menschen dahinter nicht sehen und einordnen kann, und weil er ja gar keine Maske bräuchte, hätte er nicht Übles im Sinn. Letzteres gilt sogar für den Kannibalen Hannibal Lecter aus "Das Schweigen der Lämmer", dessen Mund-Nasen-Schutz ihn im Knast daran hindern soll zuzubeißen. Gerade war die Maske noch suspekt, plötzlich aber erzeugt ein Stückchen Stoff vor dem Gesicht ein Sicherheitsgefühl, von dem die Wissenschaft sich noch gar nicht sicher ist, ob es nicht trügerisch ist.

Es ist kein Zufall, wenn die meisten Beispiele für diese Codes aus dem amerikanischen Kino stammen - die Unterhaltungsindustrie der USA ist seit Jahrzehnten zuständig für unsere Referenzen, und das hat viel damit zu tun, wenn einem die Welt heute ein wenig kleiner vorkommt. Auch innerhalb Europas stellen die gemeinsamen Seherfahrungen eine Gemeinsamkeit her - die amerikanische Dominanz auf den Leinwänden und im Fernsehen hat dazu geführt, dass nicht nur ein Deutscher und ein Amerikaner, sondern auch ein Deutscher und ein Spanier und ein Franzose sich durch gemeinsame Seherfahrungen verbunden fühlen. Weil sie alle als Kinder "Alf" und "E.T." gesehen haben, die "Star Wars"-Filme kennen und ihr Bild von New York von "Sex and the City" geprägt ist.

Der gemeinsame Film- und Fernsehkanon hat viel damit zu tun, dass sich Menschen darauf einigen können, was modisch ist oder witzig, und wie ein annehmbarer Lebensstandard auszusehen hat. So prägt das Kino unsere Vorstellungen von falsch und richtig, von human und brutal.

Umso irritierender ist es, dass die USA, das Land, aus dem all diese Moralvorstellungen und Standards in unsere Köpfe exportiert wurden, sie selbst gerade weniger erfüllt als irgendwer sonst, und je sichtbarer das in der Realität wird, desto mehr Unbehagen schleicht sich auch in diese Bilder. Die technische Überlegenheit im amerikanischen Science-Fiction, selbst die schicke Selbstgefälligkeit und der aufgeräumte Wohlstand aller Komödien von "Hangover" bis "Der Teufel trägt Prada" stehen auf dem Prüfstand.

Diese organisierte Welt, der Überfluss, die Ordnung: An all das kann man im Angesicht von Massengräbern in New York, Krankenhauspersonal in Schutzkitteln aus Mülltüten und Endlosschlangen vor Essensausgaben nicht mehr recht glauben. Das Bild, das das Kino von Amerika gezeichnet hat, ist eine Fantasie, aus der ein Image wurde, und dieses Image erleidet gerade Schiffbruch. Ob in zwei Jahren in einer Wiederholung von "Sex and the City" nicht immer noch mitschwingt, wie allein gelassen all diese Figuren sind, wenn es darauf ankommt - das kann man heute noch nicht wissen.

Irgendwann wird die neue Gegenwart in die Bilder hineinfinden, und irgendwann wird auch sie wieder fremd aussehen. Wie groß der derzeitige Ausnahmezustand auch sein mag, die Welt muss sich nicht zum ersten Mal neu erfinden. In den Diskussionen über den Sinn oder Unsinn einer Maskenpflicht hat man in den vergangenen Wochen oft gehört, in Asien sei es halt üblich, dass alle eine Maske tragen, wenn sie auch nur erkältet sind, und als Pflicht für alle sei das in Europa und Amerika nicht durchsetzbar. Und doch muss es die maskierte Menschenmenge auch früher schon gegeben haben: Im Stummfilm von "Daddy Long Legs" von 1918 spielt Mary Pickford ein junges Mädchen, das ein geheimnisvoller Gönner aus dem Waisenhaus holt, und als es endlich abreisen darf in ein neues Leben, nimmt es den Zug. Die Spanische Grippe tobte damals in Amerika, und als Mary Pickford am Bahnhof niest, springt die Menschenmenge um sie herum aufgeregt auseinander. Und alle tragen Masken.

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Quelle:
SZ vom 18.04.2020
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