Süddeutsche Zeitung

Katharina Döbler: "Dein ist das Reich":Familienalbum mit Kolonialisten

Lesezeit: 5 min

Was wollten die Großeltern als Missionare in Papua-Neuguinea? Mit ihrem Roman "Dein ist das Reich" versucht Katharina Döbler auch ein Stück Kolonialgeschichte zu verstehen, ohne zu schnell zu urteilen.

Von Jörg Häntzschel

Da ist eine junge Frau, die sich auf einer Anzeige für Klepper-Faltboote lachend einen Gebirgsbach hinunterkämpft. Da sind bedrückende Kaffeerunden in der Mission von Neuendettelsau - man hört beim Lesen die Gabeln an die Teller schlagen. Da ist ein Mann im weißen Anzug, der sich in Singapur vor einer Palme aufgestellt hat.

Katharina Döblers Roman "Dein ist das Reich" beginnt mit Bildern und Szenen, die aus einem alten Schuhkarton gefallen zu sein scheinen. Wie gehören sie zusammen? Das fragt sich der Leser, und das fragte sich auch die 1957 geborene Döbler, die von der Geschichte ihrer Familie bis vor Kurzem nur Schemen und Fragmente kannte - lauter Teile eines großen Rätsels. In ihrem fast 500-seitigen beeindruckenden Roman versucht sie es zu lösen.

Was brachte beide ihrer Großelternpaare dazu, das ist die eine Frage des Rätsels, kurz vor dem Ersten Weltkrieg als Missionare nach Papua-Neuguinea auszuwandern, um die dort seit ewig mehr oder weniger friedlich, mehr oder weniger glücklich lebenden Menschen von dem angeblichen Irrweg ihrer bisherigen Existenz und den Vorteilen des christlichen Glaubens zu überzeugen (und sie nebenbei zu "nützlichen" Plantagenarbeitern zu erziehen)? Warum dämmerte ihnen bis zum Schluss nicht, dass sie außer Gottes Wort auch Zerstörung, Entfremdung und Ausbeutung auf den Südsee-Inseln hinterlassen hatten?

"Die wahren Sünden meiner Großeltern waren gottgefälliger Art"

Und was brachte die Großeltern dazu, das ist die zweite Frage, für ihre fixe Idee einige ihrer innig geliebten Kinder in Deutschland zurückzulassen, wo sie in einem Heim gequält und gedemütigt wurden (ihre Eltern sahen sie erst zehn Jahre später wieder)? Auch deren Existenzen wurden zerstört von Hybris und Wahn des Kolonialismus. "Die wahren Sünden meiner Großeltern waren gottgefälliger Art", so Döbler, die sich in dem Familienstammbaum, der dem Buch vorangestellt ist, als "ich" eingetragen hat. Die "Verlassenheit" der Kinder war "der Grund, warum ich das alles erforschte und aufschrieb", erklärt sie.

Bei diesem Aufschreiben muss Döbler in jedem Satz um Balance gerungen haben. Wie erzählt man das Leben von vier Menschen, die sich in einen Irrglauben verrannt haben, aus dem sie nie herausfanden? Wie lässt man sie im Roman leben, ohne sich laufend von ihnen zu distanzieren? Dass ihr Roman nun als Beitrag zur Kolonialdebatte gelesen wird, macht die Sache nicht leichter.

Über weite Strecken folgt Döbler diskret und verständnisvoll ihren Protagonisten, nur gelegentlich lässt sie ihre eigene Sicht und das 21. Jahrhundert durchscheinen. Wenn sie etwa die fränkischen Missionsfunktionäre als "Horde" bezeichnet, als seien sie die wahren Wilden. Doch selbst dann ist nicht immer klar, wer spricht, die heutige Erzählerin oder eine der Figuren. Manchmal aber steigt sie selbst in die Erzählung, um die bisweilen fassungslosen Leser einen Moment lang an die Hand zu nehmen - und ihnen zu erklären, warum sie trotz allem Zuneigung empfindet für die fremd-vertrauten Großeltern. Dass diese Momente der Vermittlung so selten sind, erzeugt eine Spannung, die bis zum Ende nicht aus dem Buch weicht.

Eine Form der Fremdheit, die heute fast außerhalb unserer Vorstellungskraft liegt

Was das Erzählen ebenfalls erschwert haben muss, sind die vier Protagonisten selbst, unbedarfte und schluckerarme Bauernkinder, ratlos, verstockt, die aus tiefster fränkischer Provinz wie aus Versehen in die Welt und in ein wahnwitziges Projekt stolpern. Da ist Heiner, der aussieht wie ein verhungertes Pferd. Als ein Werber aus Neuendettelsau kommt, unterschreibt er, so wie sich im Mittelalter die hungrigen Kinder als Söldner verdingten. Und weil die "Wilden" ja sehen sollen, dass zum Mann immer die Frau gehört, führt man ihm rasch Marie zu, auch sie eine Übriggebliebene.

Nur Nette, das Klepper-Postergirl und wichtige Figur im Leben der Erzählerin, hat ihren eigenen Kopf. Ein unerwartetes Vorspiel, aus dem ein völlig anderes Leben und ein völlig anderer, ebenfalls toller Roman hätte werden können, führt sie aus ihrem Dorf nach New York, wo sie lebt, als sei sie ihrer Zeit um Jahrzehnte voraus. Sie arbeitet als Schneiderin und spart auf einen eigenen Laden. Wochenends geht sie baden oder spaziert, wenn das Wetter schlecht ist, durch Tempel und Kirchen, um Religionen auszuprobieren. Bis die Freiheit, die Frechheit jäh verfliegt, als habe es sie nie gegeben. Auf einem Heimaturlaub lernt sie den Missionar Johann kennen, der wie sie zu verwildern drohte. Mit einer Papua hat er ein Kind gezeugt, nun wird er eingefangen wie ein Spion, der die Seiten gewechselt hat. Nette und Johann heiraten umgehend, arbeiten zielstrebig an der gemeinsamen Disziplinierung und werden Bilderbuch-Missionare.

Die wechselseitige Fremdheit zwischen diesen beiden Paaren, die an benachbarten Orten im ehemaligen Kaiser-Wilhelms-Land ihre Missionsstationen aufschlagen, und den Einheimischen, kann der Roman nur mit Mühe vermitteln. Sie liegt fast außerhalb unserer Vorstellungskraft. Jahrtausende, trennen sie, Welten. Und auch die Europäer sind, bis auf Nette, gänzlich ungeübt im Umgang mit Menschen, die nicht aussehen und leben wie sie. Sie behandeln die Schwarzen nicht völlig respektlos, aber es ist die Art von Respekt, die ein Handwerker vor seinem Material hat.

Döbler verdammt das nicht, sie spricht es kaum aus, sonst würde ihr Buch zusammenklappen. Sie schildert nur ruhig und geduldig. Schildert dann auch, wie sich allmählich Nähe einstellt. Heiner und Marie, Nette und Johann assimilieren sich viel stärker, als es heutige Besucher je täten. Die Familie spricht zu Hause die lokale Sprache, die Kinder wissen nicht, was Schuhe sind. Und doch darf die Abwehr nie nachlassen. Sie wollen ja gerade nicht, was Heutige wollen würden: aussteigen, wachsen, andere werden. Sie müssen, es ist Gottes Auftrag!, genau die bleiben, die sie sind, trotz der Hitze und des Fiebers, trotz der gelben Chinin-Augen und trotz der verbotenen Lust, die sie alle paar Jahre überfällt. Verändern müssen sich die Einheimischen! Je länger die vier im Urwald ihre Kaffeerunden feiern und ihre Kirchenlieder singen, desto exotischer erscheinen sie.

Diese Dialektik der Fremdheit ist ein heimliches Leitmotiv des Buches. Ein schönes Beispiel sind die Hakenkreuze, die die "Eingeborenen" sich auf die Oberarme malen, nachdem die Missionare, die alle in die NSDAP eintreten, beginnen, sie als Armbinden zu tragen. Eifern sie damit den Deutschen nach wie naive Kinder - oder übernehmen sie das neue Symbol der Weißen so freudig, weil sie in ihm eine Art Stammesschmuck nach eigenem Vorbild sehen?

Eine Woche nach "Dein ist das Reich" ist "Das Prachtboot" erschienen, das neue Buch des Historikers Götz Aly. Er schildert darin die Grausamkeit und Zerstörungswut der Deutschen Kolonialherren in derselben Gegend. Die beiden Bücher handeln von unterschiedlichen Formen des Kolonialismus, doch es sind zwei Seiten derselben Medaille. Hier die christliche Mission, finanziert durch die Plantagen, auf denen die Einheimischen für Spielgeld schufteten. Dort Ausbeutung und Versklavung, gnadenlos durchgesetzt von den deutschen Kanonenbooten, deren Besatzungen ganze Inseln niederbrannten und die Syphilis großflächig verteilten. Steht bei Aly die Hochzeit des deutschen Kolonialprojekts im Mittelpunkt, ist es bei Döbler deren Ende und Auflösung. Döbler hat einen Roman über ihre Vorfahren geschrieben, Aly ein Sachbuch über die deutsche Pazifik-Kolonie.

Und dennoch ist "Dein ist das Reich" nicht nur fiction. Es handelt von realen Menschen mit Geburts- und Todesdaten in einer konkreten historischen Zeit. Man ist also versucht, den Roman dessen eigenem Anspruch zum Trotz als Schilderung der kolonialen Realität zu verstehen - und die erscheint bei Döbler eben harmloser und gutmütiger, als sie in Wahrheit war. Man würde Döbler wünschen, ihr Buch wäre ein paar Jahre früher erschienen. Dann wäre es als das gelesen worden, was es vor allem ist: die bewegende und unerschrocken erzählte Geschichte einer deutschen Familie , und wie sie eine kollektive Wahnidee zu Tätern und Opfern gemacht hat.

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