Süddeutsche Zeitung

Jazzkolumne:Südpol

Lesezeit: 3 min

In Brasilien fand der Jazz immer die Musik, die ihn von der Schwermut des Nordens befreite. Neue Alben von Antonio Neves, Bala Desejo, Tim Bernardes und ein Re-Issue von José Roberto beweisen, warum die Musik dort immer noch verführerisch grandios ist.

Von Andrian Kreye

Es war die "Saudade", die den Sommernerv der Bewohner des amerikanischen Nordens in Perfektion traf, diese sanfte Melancholie im Kern der brasilianischen Musik. Ziemlich genau sechzig Jahre ist es jetzt her, dass der Saxofonist Stan Getz mit seinem Album "Jazz Samba" (Verve) einen Lauf von sechs Alben begann, der die Tradition des Sommerhits im Jazz etablierte. Songs von brasilianischen Superstars nahm er auf, die in den USA kaum jemand kannte. Von Baden Powell, Antônio Carlos Jobim und Laurindo Almeida. Bossa Nova hieß diese Mischung aus Samba und Cool Jazz.

Seither ist Brasilien der Südpol der Jazzwelt. In den Siebzigern entdeckten die Jazzrocker auch noch die unzähligen brasilianischen Rhythmen. Sicher erstarrten auch die brasilianischen Fusionen öfter mal im Klischeezucker. Das hört man auf den Alben von Azymuth exemplarisch, die gerade neu veröffentlicht werden. Dafür stößt man über die Gruppe auf eines der grandiosesten Alben des brasilianischen Jazz. Far Out Recordings hat das selbstbetitelte Trio-Album des Azymuth-Keyboarders José Roberto neu aufgelegt, das 1966 erschien, als er noch keinen Maschinenpark bespielte. Auf dem reduziert er die komplexen Rhythmen der brasilianischen Genres und des Latin Jazz auf eine wunderbar kompakte Hard-Bop-Essenz. Die Dynamik ist streckenweise atemberaubend. Das beginnt gleich mit einer abenteuerlichen Interpretation von Baden Powells tragischer Ballade "O Canto de Ossãnha", mit der die drei Musiker gleich mal etablieren, dass sie Songstrukturen nur als Angebot betrachten und die rhythmischen Ebenen mit einer Lässigkeit durcheinanderwirbeln, die sonst höchstens noch Erroll Garner erreichte.

Wie endlos der Kosmos dieser Rhythmen sein kann, zeigt der Posaunist Antonio Neves auf seinem neuen Album "A Pegado Agora É Essa" (Far Out). Die Phalanx von Perkussionisten führt zwischen Samba und Jazz, Baile Funk und Hip-Hop mit Ungestüm vor, dass Rio immer noch eine Metropole ist, in der sich der gesamte nord- und südamerikanische Kontinent zusammenfindet. Oft nur durch Fender Rhodes und Kontrabass geerdet, braust die Musik selbst in den Balladen in alle Himmelsrichtungen auf. Die Freiheit, mit der die Instrumentalisten da über den Rhythmusteppichen agieren können, wirkt dabei so natürlich, weil hier zwei Konzepte der kollektiven Improvisation zusammenfinden. Der Jazz aus dem Norden und die brasilianischen Traditionen der Schlagwerke.

Überhaupt gab es in Brasilien immer wieder Nachwuchs, der festgefahrene Formen aufmöbelte. Bala Desejo ist so etwas wie eine Supergruppe. Julia Mestre, Zé Ibarra, Lucas Nunes und Dora Morelenbaum hatten allesamt selbst schon Erfolge. Inzwischen sind sie eine Wohngemeinschaft in Rio und ihr Album "Sim Sim Sim" (Coala Records) ist eine Steilvorlage für superlativistische Euphorieausbrüche. Bestes Album des Sommers! Keine schwache Minute! Und alles drin. Nylon-besaitete Gitarrenschübe. Ensemblegesänge, die zwischen Dora Morelenbaums rauchigem Sopran und Zé Ibarras samtigem Tenor jeden Song zum Abheben bringen. Refrains, bei denen man schon nach dem zweiten Anhören meint, dass man sie schon ewig kennt. Orchestertupfen. Percussion-Druck. Und weil die vier das alles mit einem Gespür für ihre eigene Erfahrungswelt in den polyglotten Hipstervierteln von Rio de Janeiro spielen, wirken all die Versatzstücke aus Bossa Nova, Samba, Tropicalia, Psychedelic und was es sonst noch so zu bieten gab in den letzten 50 Jahren brasilianischer Musikgeschichte, so frisch, als seien das alles Genres, die zwingend in die Gegenwart gehören. Das letzte Mal, dass Bossa und Samba so zeitgenössisch aufgemöbelt wurden, war vor 22 Jahren, als João Gilbertos Tochter Bebel diese Musik elektrifizierte und mit ihrem Album "Tanto Tempo" einen Welthit landete. Reiner Zufall wahrscheinlich, dass auch Bala Desejo eine dynastische Seite hat. Dora Morelenbaum ist die Tochter von Paula und Jacques Morelenbaum, die lange mit Antônio Carlos Jobim arbeiteten und später mit Ryuichi Sakamoto Bossa als moderne Kammermusik spielten. Scheint brasilianische Popstarfamilientradition zu sein. Flora Purims Tochter Diana und Jobims Tochter Maria Luiza machen ja auch Musik. Würde man für so ein zeitgeistiges Achtzigerjahremagazin schreiben, säße man wahrscheinlich schon längst im Flieger, um eine buntglänzende Reportage über die Töchter des Bossa zu machen.

Ähnlich zeitgenössisch geht Tim Bernardes zur Sache. Sein neues Album "Mil Coisas Invisíveis" (Psychic Hotline) ist so etwas wie die Antipode zum sprudeligen Album von Bala Desejo. Er dreht die "Saudade" der brasilianischen Musik in eine universelle Melancholie, die an die intellektuellen Seiten des Indie-Folk aus dem Norden andockt. Da hat er auch längst schon einen guten Stand. Die Fleet Foxes haben ihn schon ins Studio geholt, Devendra Banhart und David Byrne. Auf dem Album hat er fast alles selbst gemacht. Viel Nylonsaiten-Gitarre, Klavier, eine Plektrum-gezupfte Bassgitarre, wie sie Carol Kaye auf den späten Beach-Boys-Platten spielte, und Orchesterarrangements, die in ihrer Sparsamkeit auf einen ästhetisch tadellosen Schwebezustand abzielen. Dieser Minimalismus in Perfektion gibt seiner Stimme genau den Raum, den sie braucht für all die Dynamik und Emotionalität. Bernardes beherrscht Miles Davis' Credo, dass alles, was man nicht spielt, mindestens so wichtig ist, wie alles, was man spielt. Auch wenn Jazz bei ihm und seinen Zeitgenossen meist nur ein Nachgedanke ist. Aber das war er im Bossa Nova irgendwann auch.

Eine Playlist mit Musik aus der und zur Kolumne findet sich auf Spotify .

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