Süddeutsche Zeitung

Jazzkolumne:Futur der Hoffnung

Lesezeit: 3 min

Im diplomatischen Dienst zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Grandiose neue Solo-Aufnahmen der Pianisten Abdullah Ibrahim und Hassan Ibn Ali.

Von Andrian Kreye

Gibt es eigentlich schon die Zeitform des Futur Spei? Des Futur der Hoffnung? Der wäre irgendwann in den Jahren zwischen 2020 und 2022 entstanden und bezeichnet all jene Was-wäre-wenn-es-dann-mal-vorbei-wäre-Formen der vorausschauenden Erzählungen für die Zeit nach der Pandemie. Wahrscheinlich wird das irgendwann zum magischen Realismus gehören, aber da wäre man dann auch schon bei dem grandiosen neuen Solo-Album "Solotude", das der Pianist Abdullah Ibrahim in seinem Heimstudio aufnahm, der früher mal Dollar Brand hieß und Südafrikaner war, und der jetzt nicht weit vom Chiemsee lebt. Um das mal mit dem Futur Spei zu formulieren, wäre das in der Flut der Corona-Arbeiten, in denen Künstlerinnen und Künstler aller Gattungen in der Einsamkeit der Lockdowns um sich selbst kreisen, eines der wenigen Werke, das nicht nur übrig bleibt, sondern auch einen Einblick in die Gefühlswelt dieser Zeit gibt. Zwischen der Einsamkeit des Solo-Rezitals, der Verzweiflung der pandemischen Zeit und der Hoffnung auf ihr Ende, entstand da ein Album, das sehr viel mehr darstellt als nur das Ausloten einer Gegenwart, die mit jeder Woche bizarrer und quälender wird. So als sei Corona der Donald Trump unter den Viren.

In 20 Stücken und Vignetten schöpft der 87-Jährige tief aus seiner Lebensgeschichte, die ihn von Kapstadt über die Dissidentenbewegung im amerikanischen Exil bis ins bayerische Voralpenland führte. "Blues for a Hip King" heißt eines der Stücke, das er wahrscheinlich jemand ganz anderem gewidmet hat, das aber sein Lebenswerk (das so umfänglich wie gewaltig ist) ganz gut auf den Punkt bringt. Da umspielt er die Blaupause des Bluesschema mit dem Melodiegefühl seiner Heimat, das zwischen dem Hymnischen und dem Verzweifelten immer eine Wärme findet, die nur wenige so kongenial in den Norden gebracht haben wie Abdullah Ibrahim. Und das ist nur einer von wie gesagt 20 Einblicken.

Nun sind improvisierte Solovorträge in der Musik der direkteste Weg in den Kopf und die Seele eines Menschen. Soloklavierplatten sind zwar nicht die leichteste Kost. Weil aber Jazzmusiker immer schon im diplomatischen Dienst zwischen Vergangenheit und Gegenwart standen, gleich noch so eine Soloklavier-Empfehlung. Dass der Pianist Hasaan Ibn Ali sein Leben lang eine Lokalgröße in Philadelphia blieb, obwohl er der Spiritus Rector für Leute wie John Coltrane und McCoy Tyner war, wurde in den letzten Jahren immer wieder mal erzählt. Da erschienen die beiden einzigen Studioaufnahmen, die er hinterließ. Ein Trio mit dem Schlagzeuger Max Roach und ein Quartett mit dem Saxofonisten Odean Pope.

Nun aber sind unter dem Titel "Retrospect in Retirement of Delay: The Solo Recordings" (Omnivore) Soloaufnahmen erschienen, die zwei Studenten von der University of Philadelphia 1965 in Studentenwohnheimen und Wohnungen von ihm machten. Die sind eine solche Sensation, dass sie die sonst so sachliche Wochenzeitschrift New Yorker zu dem Satz hinriss: "Damit wird er nicht nur auf der Landkarte der Jazzgeschichte verortet, sondern die Landkarte wird um die ganze Bandbreite seines musikalischen Schaffens erweitert." Ohne Rhythmusgruppe kann Ibn Ali seinen Ideen einen so freien Lauf lassen, dass selbst damals schon abgenudelte Standards "Cherokee" oder "Body and Soul" ganz neue Fallhöhen bekommen. Die gesamte Musik seiner damaligen Vergangenheit und Gegenwart kommt da zum Ausbruch, von Erroll Garners Kunst, offene Eingangspassagen in Blockakkorden zu erden, über Thelonious Monks Mut zu schiefen Intervallen bis zu Don Pullens Einsatz der gerollten Faust als Stilmittel.

Auch gut aus diesen Wochen:

Barney Wilen, "French Ballads" (Elemental). Für die amerikanischen Exilanten in Paris war Wilen immer ein Anker in der lokalen Szene. Jahre später brachte er all die Größe der Ballade auf dem Tenorsaxofon mit Landsmänner auf den Punkt.

Christian McBride & Inside Straight "Live at the Village Vanguard" (Mack Avenue). Engagements im New Yorker Kellerclub Village Vanguard waren schon immer die Feuertaufe des Modern Jazz. Warum der Bassist in den letzten Jahren zu einem solchen Giganten wurde, zeigt diese Aufnahme von dort aus dem Jahr 2014, bei der er mit seinem Quintett den Post-Bop zum Fliegen brachte.

Johnathan Blake "Homeward Bound" (Blue Note). Noch so eine Feuertaufe - das erste Album bei Blue Note. Zehn Jahre nach seiner ersten Platte "The Eleventh Hour" legt der Schlagzeuger Johnathan Blake ein Album mit einer solch ausgeklügelten Interpretation des Swing-Gefühls über so viele Jahrzehnte vor, dass man gleich mehrmals hintereinander hinhören mag, um sich immer tiefer reinzufinden. Es hilft natürlich, dass zu seinem Quintett "young lions" wie der Vibrafonist Joel Ross, der Saxofonist Immanuel Wilkins, der Bassist Dezron Douglas und der Keyboarder David Virelles gehören.

Der Schatten der Jazzrock-Supergruppe Weather Report ist so übermächtig in der Musik der Gegenwart, dass er meist schon gar nicht mehr wahrgenommen wird. Einer, der das Erbe kongenial in der digitalen Zersplitterung der Gegenwart neu interpretiert, ist der Multiinstrumentalist Telemakus, der vor zwei Jahren als 19-Jähriger im Raum San Francisco mit seinen ambitionierten Elektronikjazz-Kompositionen Aufmerksamkeit erregte. Auf seinem neuen Album "The New Heritage" sind die silbrig schimmernden Keyboards, der gewittrige bundlose E-Bass und die harmonischen und rhythmischen Doppel-Axel genau der Beweis, warum Joe Zawinul und Wayne Shorter damals Musik für die Ewigkeit produzierten, auch wenn man damals noch glaubte, sie taugte nur für die Gegenwart.

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