Süddeutsche Zeitung

Filmfestspiele Venedig:Im Wüstensand

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Vom Wilden Westen bis in den Weltraum: Warum wirken die Premieren bei den Filmfestspielen wie Kommentare auf die Gegenwart?

Von Susan Vahabzadeh

Keine andere Kunstform kann die Vergangenheit mit so viel Leben erfüllen wie das Kino, und genau darin ist Jane Campion eine Meisterin. Es gibt nicht viele weibliche Regiestars, sie ist unbedingt einer davon, seit sie 1993 "Das Piano" machte. Ihr neuer Film wurde also lang und heiß ersehnt - sie hat fürs Kino zuletzt "Bright Star" (2009) gedreht, und mit "The Power of the Dog" setzt sie nun am ersten Wochenende der Filmfestspiele von Venedig einen Akzent. Mit einer Überraschung: Sie mag offensichtlich nicht mehr dafür zuständig sein, Frauenleben zu beschreiben. Diesmal hat sie eine Männerseele erkundet.

Ihr Film spielt am Ende der Wildwest-Zeit, die Brüder Phil (Benedict Cumberbatch) und George (Jesse Plemons) betreiben eine Ranch. Phil ist ein Macho, der anderen das Leben schwer macht; George hat das feinfühligere Gemüt und wirbt um die Witwe Rose (Kirsten Dunst), aber Phil kann nicht aufhören, sie und ihren Sohn Peter (Kodi Smit-McPhee), den er nicht männlich genug findet, zu quälen.

Zwischen ihrem letzten Film und diesem liegt "Me Too", und Campion hat in Venedig gesagt, dieser Moment sei "für Frauen wie der Fall der Berliner Mauer oder das Ende von Apartheid". Das sind harte Worte, und so sehr es in "The Power of the Dog" auch um die Sehnsucht nach Liebe und Gefühl in den Fingerspitzen geht: Die Härte, mit der hier dem Macho begegnet wird, ist dann auch wieder beklemmend, und der Underdog, der sich da ganz fies zur Wehr gesetzt hat, ist dann eben auch zum Fürchten. Phil spielt den Macho sowieso nur vor, und vielleicht will sie darauf hinaus: dass man immer aufpassen muss im Kampf um Gerechtigkeit, nicht selbst ungerecht zu sein.

Campion ist sich mit "The Power oft he Dog" treu geblieben - die Texturen der Gegenstände und Kleider sind in ihren Filmen zentral. Einmal sieht man Phil, wie er mit einem Seidenschal die Berührungen zu ersetzen versucht, die ihm fehlen - er hat Bronco Henry gehört, von dem er immer erzählt und der schon lange tot ist. Der einzige Mensch, den er je geliebt hat. Wie er die raue Schale vorspielt und der Zeiten wegen nicht sein darf, was er ist, das erinnert ein bisschen an Campions Heldin in "Bright Star", die gegen alle Hindernisse des 19. Jahrhunderts versucht, ihrem gebrechlichen und weltfremden Geliebten, dem Dichter John Keats, eine Versorgerin zu sein. Vielleicht ist es eine gute Methode, die Freiheiten von heute zu feiern, zu zeigen, was es bedeutet hat, sie zu entbehren.

Der Film beginnt mit einer grandiosen aus dem Flug gefilmten Sequenz, auf Neapel zu

Kann man viel anfangen mit Geschichten über die Vergangenheit oder die Zukunft, wenn sich die Gegenwart nicht in sie eingeschlichen hat? Das ist genau das Problem beim neuen Film von Paolo Sorrentino, der sich auch eine Männerseele zur Erkundung auserkoren hat für "È stata la mano di Dio" - seine eigene. Fabio, die Hauptfigur, ist ein Selbstporträt. Für Fabio wird der Sommer, in dem "Die Hand Gottes" eine Rolle spielt, der letzte seiner Kindheit. Der Film beginnt mit einer grandiosen aus dem Flug gefilmten Sequenz, auf Neapel zu, wo ein Oldtimer die Küste entlangfährt, dann zurück aufs Meer, wo man die Umrisse von Capri und Ischia in der Ferne sieht. Sorrentino ("La Grande Bellezza", "The Young Pope") hatte, wie eigentlich immer, einen Haufen skurriler Ideen - in der Großfamilie gibt es eine alte Tante, die im Pelzmantel in der Sonne sitzt und offensichtlich an so einer Art Dauer-Tourette-Syndrom leidet, und Fabios Eltern sind herrlich. Die Mutter spielt gern Streiche, einmal, als sie der Nachbarin am Telefon erzählt hat, sie sei die Assistentin von Franco Zeffirelli, brüllt der Vater: Wir sind Kommunisten, die sind ehrlich! Dass Maradona nun für Neapel spielt, der Moment, als er bei einem Tor den Ball mit der Hand berührt - das ist lebensbestimmend für Fabio, bis alles hinter den persönlichen Sorgen zurücktreten muss. "Die Hand Gottes" ist wundervoll anzusehen, aber man findet eben viel über Sorrentino heraus und wenig über die restliche Welt.

Fabio hat dennoch einiges mit dem hochwohlgeborenen Paul Atreides (Timothée Chalamet) gemein, viel mehr als den dunklen Lockenkopf - wie Fabio wird Paul sehr plötzlich mit dem Erwachsenwerden konfrontiert. Paul ist der junge Held, der in "Dune" auf den Wüstenplaneten Arakis kommt, dessen eigentliche Bewohner im Untergrund leben, während die Mächte des Imperiums über ihre Lebensgrundlagen entscheiden. Die Bewirtschaftung von Arakis wird durch riesige, alles verschlingende Erdwürmer erschwert. Frank Herberts Romane erschienen erstmals in den Sechzigern, die erste und bislang erfolgreichste Verfilmung hat 1984 David Lynch besorgt. Der Kanadier Denis Villeneuve, der unter anderem "Arrival" und "Blade Runner 2049" gemacht hat, findet mit seiner neuen Verfilmung, sie läuft außer Konkurrenz, seinen eigenen Zugang zu den mythischen Welten der Science-Fiction.

"Spice" ist der Rohstoff, für den der Wüstenplanet ausgebeutet wird, eine Metapher für jeden Rohstoff, für den seit Hunderten von Jahren Krieg geführt wurde. Wie Villeneuve davon erzählt - ein bisschen langsamer und viel konzentrierter auf die Charaktere, als man von Hollywood-Science-Fiction gemeinhin erwartet -, ist genau das Gegenteil von "Die Hand Gottes". Villeneuve findet in allem das Jetzt, letztlich hat sein Film sogar mit Afghanistan zu tun, obwohl er, als er ihn gedreht hat, nicht wissen konnte, wie sehr Flucht und Vertreibung uns im Moment seiner Premiere beschäftigen würden. Allerdings hat man am Ende von "Dune" das Gefühl, nur einen halben Film gesehen zu haben, und das ist ja auch so - den Roman hat Villeneuve sich in zwei Teilen vorgenommen, und der erste endet nun in der Erwartung des zweiten. Oscar Isaac, der Pauls Vater spielt, ist dann nicht mehr dabei. Aber dafür tauchte er im Wettbewerb gleich noch mal auf und am Sonntag in einer HBO-Neuverfilmung von "Szenen einer Ehe".

Die Bilder aus den Folterkellern von Abu Ghraib kommen im Schlaf zurück

Isaac ist auch die treibende Kraft in Paul Schraders "The Card Counter". Da spielt er Bill Tilich, der sich William Tell nennt, seit er aus dem Gefängnis entlassen wurde. Er ist ein Spieler, der quer durch die USA von Casino zu Casino fährt und einen ordentlichen Lebensunterhalt damit verdient, beim Kartenzählen am Spieltisch zu gewinnen - mit kleinen Einsätzen, damit keiner sich die Mühe macht, ihn rauszuwerfen. Seine Hotelzimmer sehen immer gleich aus - als Erstes verkleidet er, wenn er hereinkommt, alle Möbel mit den weißen Laken, die er im Gepäck hat, und es wird nie so recht klar, ob er das aus übertriebener Reinlichkeit tut, oder weil er sich damit selbst ein Gefühl von Zuhause in die fremden Räume mitbringt.

Nachts plagen ihn Alpträume, und es kann einem schon beim ersten dämmern, was in seiner Vergangenheit für den Gefängnisaufenthalt und die unrettbar verwundete Seele verantwortlich ist: Die Bilder aus den Folterkellern von Abu Ghraib kommen im Schlaf zurück, wo Bill als junger Soldat stationiert war; er hat andere Menschen zerstört und dabei auch sich selbst. Jeder, sagt er einmal zu dem Jungen, den er auf seiner Reise aufliest, hat einen Punkt, an dem er einfach ausrastet. Auch Circs Vater war damals in den Kellern von Abu Ghraib - er hat sich umgebracht, und der Junge will Bill nun dazu überreden, mit ihm Jagd zu machen auf einen Mann namens Gordo (Willem Dafoe), der damals der Vorgesetzte der Folterer war, sie animiert hat und keinen Preis dafür gezahlt zu haben scheint. Auch Schrader ist auf der Suche nach Gerechtigkeit - dass Rache immer neue Schuldige schafft, weiß er aber schon.

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