Süddeutsche Zeitung

Klassikkonzert:Des Wahnsinns ganze Fülle

Lesezeit: 3 Min.

Pianist Igor Levit triumphiert mit Schostakowitsch im Münchner Prinzregententheater.

Von Reinhard J. Brembeck

Tanz und Leichtigkeit, Eleganz und Understatement, hemmungslose Virtuosität und grüblerische Dunkelheit: Damit führt der Pianist Igor Levit seine 1001 Anhängerinnen und Musikbegeisterte im ausverkauften Münchner Prinzregententheater durch die "Vierundzwanzig Präludien und Fugen, Op. 87" von Dmitri Schostakowitsch. Dieser riesige 48-Stücke-Zyklus ist ein Exerzitium und ein Paradies, eine Zumutung und eine Lust. Nach drei Stunden mit Pause klopft Igor Levit auf den Klavierstuhl, glücklich darüber, es geschafft zu haben. Und sein Publikum - für Müncher Klassikverhältnisse sind auffällig viele junge Menschen erschienen - feiert den Pianisten wie den Komponisten an diesem denkwürdigen Ausnahmeabend. Viel des Glücks besteht darin, dass Levit, ganz in Schwarz, mit offenem Hemd und einem T-Shirt drunter, so gar nicht als ein der Welt entrückter Klassikstar auftritt, sondern sich als stolzer Handwerker am Klavier versteht, der seinen Schostakowitsch ohne alle Interpretationsallüren vorspielt.

Der 34-jährige Igor Levit liebt seit jeher die großen Herausforderungen: Ludwig van Beethovens letzte Klaviersonaten, die großen Variationszyklen von Beethoven, Johann Sebastian Bach, Frederic Rzewski, Olivier Messiaens "Visions de L'Amen"... Jetzt ist er bei Schostakowitsch angekommen. Der hat 1950, als die Welt den 200. Todestag Bachs feierte, dem großen Vorbild und dessen beiden, mit je 24 Fugen samt Präludien bestückten Bänden des "Wohltemperierten Claviers" die großartigste Hommage komponiert, die je ein Komponist einem anderen dargebracht hat. Hier findet sich der ganze Schostakowitsch: sein Sarkasmus und sein Hang zur Groteske, zu existenzverdunkelndem Leerlauf und zu orientalischen Endlosmelismen, zu vereisten Klanglandschaften und Totentänzen (Mussorgsky!), zu herber Folklore und sich in komplizierte Klangkonstrukte verbeißende Melancholien. Doch im vielfarbigen Schatten Bachs, dem noch nie ein Komponist entronnen ist, werden Schostakowitschs Vorlieben und Idiosynkrasien grandios abgemildert und in der Großform formal gebändigt, sogar seine monomane Einsamkeit wird human eingefriedet.

Die Des-Dur-Fuge fetzt Levit kühn wie ein Stierkämpfer hin - den Applaus winkt er ab

All das gelingt, weil Schostakowitsch nie wie Arnold Schönberg und sein Gefolge die Tonalität aufgegeben hat, er hat sie nicht einmal so überstrapaziert wie Igor Strawinsky, Claude Debussy, Béla Bartók. Das erleichtert dem breiten Klassikpublikum den Zugang zu seiner Musik, die in den letzten Jahrzehnten dem einst im Westen so populären Sergej Prokofjew heftig Konkurrenz macht. Schostakowitsch ist stilistisch einheitlicher, moderner und kompromissloser als der zwischen Motorik und Romantik schwankende Prokofjew. Im motorisch wilden Furor der Des-Dur-Fuge, die Levit kühn wie ein Stierkämpfer hinfetzt, ist eine Hommage ans berühmte Finale der siebten Prokofjew-Sonate auszumachen, aber auch an eines der waghalsigsten und ähnlich radikalen Stücke von Wolfgang Amadeus Mozart, die Gigue. Das Publikum will klatschen, Levit winkt ab, es gibt ja noch eine Menge zu spielen.

Große Komponisten dürfen eitel sein. Johann Sebastian Bach hat in seiner berühmten unvollendeten Fuge, die gern, aber nicht wirklich überzeugend seiner "Kunst der Fuge" zugeschlagen wird, seine Namensbuchstaben B-A-C-H untergebracht, dann aber kam er nicht weiter. Schostakowitsch war noch eitler, aber er musste tricksen, das D aus dem Vornamen nehmen und mit den drei Anfangsbuchstaben des Nachnamens kombinieren, wobei das S nur Deutsch gelesen als Es musikalisch Sinn ergibt. D-Es-C-H hat er öfter eingesetzt, aber nicht in den Präludien und Fugen. Der recht unbekannte schottische Komponist, Kriegsdienstverweigerer und Kommunist Ronald Stevenson hat über diese vier Töne dann seine "Passacaglia on DSCH" komponiert, ein 90-minütiges Meisterstück, in dem er wie sein Vorbild die erweiterten Grenzen der Tonalität respektiert und zugleich alle musikalischen Formen erprobt, Revolution, Holocaust, das Dies Irae, Folklore und Bach virtuos kurzschließt.

Levit hat diese "Passacaglia" im Sommer bei den Salzburger Festspielen mit grandioser Verve aufgeführt, er hat sie auf seinem vor Kurzem erschienenen letzten Album mit Schostakowitschs Präludien und Fugen kombiniert (Sony). Das ist sehr viel mehr als Konzept, es ist der für Levit typische Versuch, die Welt und ihren Irrsinn, ihre Missstände in der Musik zu fassen. Nicht um sie abzumildern oder zum Verschwinden zu bringen, nein. Igor Levit ist ein Polit-Pianist. Er begreift die großen Meisterstücke immer als Gegenentwurf zu und als Einspruch gegen eine zunehmend aus den Fugen geratende Welt. Im Fall von Schostakowitsch, und vor allem in diesem Münchner Konzert, geht dieser Ansatz überwältigend auf: Klassik als Protest, wobei die Musik aber in keinem Moment ihre erhabene Größe einbüßt. Was für ein Abend!

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