Frauenensemble Zohra:"Es ist mir egal, ob sie mich umbringen, ich höre mit der Musik niemals auf"
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Ein Frauenorchester aus Afghanistan ist zu Besuch in Deutschland. Die jungen Musikerinnen machen vielen Hoffnung, in ihrer Heimat aber bekommen sie Todesdrohungen.
Von Meredith Haaf
Am Ende, da hat Negin Khpalwak ihr Ensemble in einen Schlussrausch aus Trompeten und Tablas, Geigen und Rubabs hineindirigiert. Alles steht und brüllt vor Begeisterung in der Berliner Gedächtniskirche, und plötzlich löst sich ein Pulk aus Selfiejägern und sonstigen Handyfotografen aus dem Publikum und stürmt auf die Bühne zu. Beinahe hätte man vergessen, worum es hier geht: dass jedes einzelne der Mädchen, die so zart und reizend wirken in ihren bunten Gewändern, manches von ihnen kaum größer als ihr Sitar, vor allem ungewöhnlich mutig und risikobereit ist. Dann kommen die Personenschützer, und man weiß es wieder.
Bullig und bärtig bilden sie eine dichte Mauer aus Männern, vor ihnen ein begeistertes Publikum, hinter ihnen die Mädchen, stolze Gesichter im Applaus, wenig Unruhe darüber, dass hier plötzlich eine Art Sicherheitssituation entstanden ist. Das ganze Leben dieser Mädchen ist eine einzige Sicherheitssituation. Die Instrumente in ihren Händen sollen das ändern und verstärken zugleich die Gefahr.
Zohra ist zu einem Vorzeigeprojekt geworden
Afghanistan hat kein Nationalorchester, keine Philharmonie und keine Staatsoper. Aber in einer Welt, in der es auch in friedlichen Regionen nicht gerade vor reinen Frauenensembles wimmelt, hat Afghanistan seit zwei Jahren Zohra. 35 Schülerinnen des Afghanischen National-Instituts für Musik (Anim) spielen Instrumente aus der klassischen westlichen und der afghanischen Tradition. Zohra ist zu einem Vorzeigeprojekt geworden, letzte Woche war die Gruppe zu Gast beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Zu ihrem Konzert in der Gedächtniskirche wollen so viele Berliner, dass es am Eingang auf dem Breitscheidplatz zu tumultartigen Szenen kommt, Kinder werden in die Luft gehoben, die Menschen stehen so dicht, dass sich hier, direkt neben dem Tatort des Terroranschlags vom Dezember, eine ziemliche Nervosität ausbreitet und das Konzert mit über einer halben Stunde Verspätung erst beginnt.
Auf ihrer Tournee spielen Zohra ein Programm aus afghanischen Volksmusik-Arrangements, neuen Kompositionen und einer Variation auf die Ode an die Freude. Angeleitet werden sie von einem jungen amerikanischen Musiklehrer, der seit Jahren Geigenunterricht in Kabul gibt. Bei den Proben erinnert er seine Schülerinnen an die Abläufe und ermahnt sie, nicht auf der Bühne zu quatschen. Bei Auftritten sind es aber vor allem die 19-jährige Negin und die 18-jährige Zarifa Adiba, die ihre Kolleginnen durch das Repertoire führen und auch zu inoffiziellen Sprecherinnen von Zohra geworden sind.
Wenn Zarifa dirigiert, spielt Negin am Schlagwerk, einen adlerartigen Blick auf das gesamte Orchester gerichtet. Dirigiert Negin, sitzt Zarifa bei den Streichern. Es ist schon in Europa kein ganz üblicher Anblick, sehr junge Frauen mit Taktstöcken zu sehen, Frauen, die zu offiziellen Anlässen Kopftuch tragen zumal. In der Gedächtniskirche kann man im Publikum afghanisch sprechende Männer und mit bunten Kopftüchern bekleidete Frauen beobachten, die sich die Freudentränen aus den Augen wischen. Und das hat bestimmt nicht nur mit den elektrisierenden, warmen Harmonien der Dotars und der Celli zu tun, sondern auch mit einem Versprechen, das in den beiden jungen Frauen da oben am Pult eingelöst zu werden scheint. In Afghanistan selbst sind es allerdings nicht wenige, die sich von Zohra und ihren Dirigentinnen aufs Blut gereizt fühlen.
"Es ist mir egal, ob sie mich umbringen, ich höre mit der Musik niemals auf", sagt Negin. Es klingt wie einer dieser pathetischen Sätze, die Teenager sagen, und es klingt, über einer Cola in Berlin-Charlottenburg gesprochen, abstrakt. Doch Negin sagt das über die Leute, die sich ihre Familie nennen und ihr mit dem Tod drohen. Die Leute, deretwegen ihre Eltern das Heimatdorf verlassen und den Kontakt zur Familie abgebrochen haben.
Mit neun Jahren schickte ihr Vater das Mädchen nach Kabul, damit sie dort zur Schule gehen könne - gegen den Willen aller Onkel und Tanten, die in einer afghanischen Großfamilie mitreden dürfen. Zarifa wiederum kam erst als 16-Jährige zum Afghanischen National-Institut für Musik, mit ihrer Familie war sie vor den Drohnenangriffen in Pakistan geflohen. Wie jeder Schüler musste sie ein Instrument wählen und griff zur Bratsche. Bratscher sind die Ostfriesen der Orchesterwitze, Zarifa hat davon in der Schweiz zum ersten Mal gehört. Ist ihr aber egal: "Ich bin jetzt die älteste Bratschistin Afghanistans und eine von vier!" Seit fünf Monaten dirigiert sie auch, es mache sie so glücklich wie einen Engel, sagt sie. Doch in den ersten Nächten in Davos ging es ihr schlecht. Auch afghanische Medien berichteten über Zohras Auftritt, die Angst davor, was ihr nach der Rückkehr passieren würde, wenn die Verwandtschaft etwas mitbekäme, war erdrückend. Doch dann habe die Mutter angerufen mit der Nachricht: "Mein Onkel ist vorbei gekommen und hat mir ausrichten lassen, er sei stolz auf mich. Und ich habe gesagt: Schau her, ich habe meinen Onkel geändert!" Der alte Onkel, der Musik und alle, die sie machen, als gottlos verachtet hatte, ist nun stolz auf seine Bratsche spielende, Taktstock schwingende Nichte.
Für den Glauben, dass Musik der Schlüssel zum Frieden sei, wird man im Westen schnell belächelt
Das Anim ist weniger ein Konservatorium für musikalisch begabte Kinder, so wie das Weimarer Musik-Internat Belvedere, wo Zohra an diesem Dienstag gastiert und ein letztes Konzert mit deutschen Schülern spielen wird. Es ist eine Einrichtung zur Verbesserung der afghanischem Gesellschaft: "Wir bilden unsere Schüler nicht zu perfekten Musikern aus, sondern zu Menschen, die Musik als Kraft für den sozialen Wandel schätzen und nutzen", sagt Ahmad Sarmast. Der Sohn des bekannten afghanischen Komponisten Selim Sarmast kehrte 2008 aus dem australischen Exil zurück und gründete die Schule in Kabul.
In einem Land, in dem wegen der vielen Kriege und nicht zuletzt des Talibanverbotes Jahrzehnte lang kaum musiziert wurde, in dem viele nicht genug zu essen haben und das nächste Attentat nur eine Frage der Zeit ist, gelang es Sarmast, kostbare Instrumente aufzutreiben und junge ausländische Musikpädagogen zu gewinnen. 2011 kostete ihn sein Einsatz fast das Leben, bei einem Konzert der Schule sprengte sich ein junger Mann in die Luft. Sarmast überlebte schwer verletzt. Für den Glauben, dass Musik der Schlüssel zum Frieden sei, einen Glauben, den man im Westen schnell belächeln kann, hat er einen hohen Preis gezahlt. Er sagt, musikalisch gesehen, sei eine ganze Generation verloren gegangen unter den Taliban. "In den Köpfen vieler Menschen ist Musik etwas Fremdes, Böses." Eine Aussage, die man kaum begreifen kann, wenn man in einem Land lebt, wo überall eine Playlist dudelt, musikalische Früherziehung einen hohen Status hat und die meisten Menschen irgendeine Meinung zu Pop haben.
Um diese Normalität zu erreichen, muss Ahmad Sarmast seine besten Schülerinnen und Schüler erst einmal ins Ausland bringen. Denn so begrenzt schon die Möglichkeiten für musizierende Kinder sind, für erwachsene Musiker sind sie kaum vorhanden. Eine seiner Cellistinnen ist immerhin zur Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule Franz Liszt in Weimar eingeladen worden, Sarmast wünscht sich mehr solcher Initiativen von westlichen Musikhochschulen, damit das Potenzial, das da in vielen Kindern und Jugendlichen geweckt wird, nicht auf dem Weg ins Erwachsenenleben verloren geht. Auch Negin weiß, dass sie bald gehen muss: "Es gibt in Afghanistan niemanden, der mir beibringen kann, eine wirklich gute Dirigentin zu werden", sagt sie. Und danach? "Afghanistan braucht ein Nationalorchester, das werde ich aufbauen, und dann spielen wir Beethovens Neunte", sagt sie. Und man hört kein bisschen Leichtigkeit in ihrer Stimme und nicht den Hauch eines Zweifels.