Süddeutsche Zeitung

Französische Literatur:Camus' namenlos ermordeter Araber hat jetzt einen Namen

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"Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung" will Camus' "Der Fremde" neu erzählen - aus arabischer Sicht. Doch das in Frankreich hochgelobte Buch ist bei Weitem nicht so gut wie das Original.

Buchkritik von Tobias Lehmkuhl

Wer einmal "Der Fremde" gelesen hat, wird sich nicht an das Buch erinnern, ohne zu spüren, wie ihn die Sonne blendet, wie ihre Strahlen sich geradezu in den Kopf bohren und dort auszulöschen trachten, was an Vernunft, Geschichte, was an Sinn jemals da gewesen sein mag. Alles ist in gleißende, verzehrende Helligkeit getaucht - eine Nahtoderfahrung, die es nur natürlich erscheinen lässt, dass jemand stirbt.

In Albert Camus' Roman wird dieser Tote schlicht "der Araber" genannt. Ihm einen Namen zu geben, darum geht es nun in Kamel Daouds "Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung". Der Roman erregte bei seinem Erscheinen in Frankreich großes Aufsehen und wurde sogleich für den Prix Goncourt nominiert.

Mit einigem Abstand muss man sich allerdings fragen, ob man es mit Daouds Version des "Fremden" tatsächlich mit einem, wie behauptet wurde, gleichrangigen Gegenstück zu tun hat, oder ob nicht allein die Idee, die Geschichte des "Arabers" zu erzählen und mithin eine Ikone der französischen Literatur auf den Kopf zu stellen, derart elektrisierend war, dass viele Kritiker vielleicht etwas voreilig aus dem Häuschen gerieten.

Der Erzähler kritisiert die Gleichgültigkeit des "Fremden"

Erzähler des Romans ist der Bruder des Toten. Er sitzt in einer Bar in Oran, und berichtet einem namenlosen "Literaturwissenschaftler" über einige Tage und mehrere Flaschen Wein hinweg von jenem Tag im Jahr 1942, als besagtem Meursault die Sonne das Hirn verbrennt und er vier Kugeln auf einen ihm völlig Unbekannten abfeuert. Moussa heißt dieser Fremde, und ihm einen Namen zu geben, ist der auf die Dauer etwas schwache Motor dieser Erzählung.

Nicht genug, dass uns Frankreich über Jahrzehnte drangsaliert und ausgebeutet hat, nicht einmal einen Namen haben die Franzosen jenen gelassen, die sie ermordet haben. So ließe sich die Haltung des Erzählers zusammenfassen. Sie ist nur recht und billig - wäre denn "Der Fremde" ein Bericht und sein Verfasser der Mörder selbst.

Der Vorwurf der Gleichgültigkeit läuft ins Leere

Es handelt sich aber um einen bis ins Letzte durchkomponierten Roman, einen Roman von geradezu klassischer Strenge, der in atmosphärisch extrem dichten Bildern von einem Mann erzählt, dem alles einerlei ist - der Tod seiner Mutter, die Liebe einer gewissen Marie, die vermeintliche Freundschaft eines Nachbarn.

Nicht im Geringsten interessiert er sich dafür, wie dieser von ihm getötete Araber geheißen haben mag. Der Vorwurf der Gleichgültigkeit also läuft ins Leere, denn um eben diese Gleichgültigkeit geht es ja gerade.

Am Ende freilich kommt es darauf gar nicht an, spielt es auch keine Rolle, ob nun Camus oder Meursault der Autor von "Der Andere", wie das Buch bei Daoud heißt, ist. Am Ende will man - und dies entspricht nun ebenfalls dem Zeitgeist, daher auch die Aufmerksamkeit für Daouds Werk - etwas über die andere, fremde Seite, eben die der "Araber" erfahren, um sie besser zu verstehen und das allgemeine Gefühl der Bedrohung durch "den Islam" vielleicht etwas abzumildern.

Mit dieser Erwartungshaltung zumindest spielt der Titel "Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung". Von einer Gegendarstellung erwartet man sich neue Aspekte, eine Verschiebung der Perspektive, ein "so war es nicht, sondern folgendermaßen". Doch nichts davon in Daouds Roman.

"Seine Geschichte" ist ein zielloser Dialog - und zwar ein langweiliger

Recht eigentlich kann man dieses Buch nicht einmal einen Roman nennen, erwartet man denn so etwas wie Handlung, eine Geschichte. Der Erzähler aber behauptet nur ein ums andere Mal, eine Geschichte, seine Geschichte zu erzählen, in der gleichen Sprache wie der Mörder zwar, "aber diesmal, wie das Arabische, von rechts nach links".

In Wirklichkeit jedoch räsoniert er lediglich darüber, wie schwer ihm das Leben durch den Tod seines Bruders geworden ist, wie sehr dieser Tod seine Mutter mitgenommen hat. Ja, am Ende staunt man, wie lang zweihundert Seiten sein können, wenn sie mit bloßem Gerede gefüllt sind, wenn nur ziellos monologisiert wird.

Wer sich an Camus' Meisterwerk misst, muss wenigstens mithalten können

Zwar deutet Moussas Bruder eine Liebesgeschichte an, behauptet, kurz nach der Unabhängigkeit Algeriens, in einer Art verspäteter Rache, einen Franzosen erschossen zu haben. Doch diese "Ereignisse" wirken aufgesetzt und konstruiert, während in Camus' "Der Fremde" alles von einer beklemmenden Folgerichtigkeit ist - die Fahrt zur Beerdigung der Mutter, der Gang an den Strand, ja selbst das stumpfe Zum-Fenster-Hinausstarren ist bei Camus Teil eines zum äußersten gespannten Erzählbogens.

Der Grund, warum in "Der Fremde" vermeintliche Banalitäten derart aufgeladen sind und jedes Sandkorn seinen Platz in der Geschichte hat, liegt natürlich in der sprachlichen Gestalt dieses Kunstwerks.

Daoud respektiert Camus - aber kann nicht halten, was er verspricht

Ihr zollt auch Daouds Erzähler Tribut: "Wenn dein Held die Ermordung meines Bruders so gut erzählt, dann konnte er das, weil er auf das Gebiet einer völlig unbekannten Sprache vorgedrungen war, die viel mächtiger und so überwältigend ist, weil sie gnadenlos den Stein der Worte schleift, so schnörkellos wie die euklidische Geometrie."

Das kann man nun von der ganz unspezifischen, ja selbst in diesem durchaus treffenden Lob etwas unbeholfenen und grammatikalisch zweifelhaften Sprache Daouds weiß Gott nicht behaupten - und daran ist nicht allein die Übersetzung schuld.

Darum auch, weil es an Gestaltungskraft mangelt, fasst uns das Leid des Erzählers nicht an, darum scheinen all seine Reflexionen ins Leere zu laufen, darum ist diese Geschichte nicht gut. Darum hat sie, recht bedacht, den Namen "Geschichte" nicht wirklich verdient.

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Quelle:
SZ vom 19.02.2016
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