Süddeutsche Zeitung

"Promises" von Floating Points und Pharoah Sanders:Debussy für die Clubs auf Ibiza

Lesezeit: 4 min

Der Saxofonist Pharoah Sanders und der Produzent Floating Points haben ein Album mit den Londoner Symphonikern aufgenommen. Neun Sätze, knapp 50 Minuten, nicht eine einzige Schwachstelle.

Von Andrian Kreye

Sensationellst. Als Schreibender der Gegenwart macht man sich mit Pathos und Adjektiven ähnlich unbeliebt, wie die Avantgarde mit Schönheit und Harmonie. Aber genau die schafft der englische Komponist Sam Shepherd alias Floating Points gleich in den ersten Sekunden seines wirklich sensationellen Werkes "Promises" in Perfektion. Deswegen ist Pathos die richtige Reaktion.

In den vergangenen fünf Jahren hat Floating Points das Stück in neun Sätzen gemeinsam mit dem Jazz-Saxofonisten Pharoah Sanders und den Streichern der Londoner Symphoniker komponiert, erarbeitet und aufgenommen. Sieben Noten auf Cembalo und Celesta umfasst das strahlende Schlüsselmotiv, das er voranstellt und das sich durch das gesamte Stück zieht. Er spielt in diesem Anfang brillant mit dem Raum der Stille. Im Nachhall des Cembalos hört man Sanders, wie er die Klappen seines Tenorsaxofons greift, tonlos anbläst. Nach einer guten Minute setzt er im oberen Register ein, erdiger Gegenpol zu Shepherds glasklaren Motiven. Und dann lässt einen das für eine Dreiviertelstunde nicht mehr los.

"Promises" ist vieles (in den deutschen Amazon-Charts steht die CD sowohl bei Dance/Electronic als auch bei Jazz auf Platz eins und war auch gleich ausverkauft), vor allem aber der Glücksfall von Album, der für ein breites Publikum die Tür zu einer Musik einen Spaltbreit öffnet, die sonst eher schwierig ist, ohne sich dabei anzubiedern. Charles Lloyds "Forest Flower" tat das Ende der Sechzigerjahre mit dem damals so radikalen Modern Jazz, weil sein Quartett mit Keith Jarrett im Summer of Love mit seinem lyrischen Zugang zur Ekstase die Befindlichkeiten des Psychedelik-Publikums traf. Jarrett öffnete ein paar Jahre später die freie Improvisation für Leute, die mit klassischer Musik sozialisiert wurden. Und dann war da noch Arvo Pärts "Fratres" mit den zwölf Cellisten der Berliner Philharmoniker, das sehr viele Menschen mit einer zeitgenössischen Klassik versöhnte, die bei ihm zumindest streckenweise zur Harmonie zurückfand.

"Promises" wiederum kann nun für viele eine Tür zu jener spirituellen Musik öffnen, die sich zwar nicht so schwer erschließt wie der Free Jazz, ihm aber doch hörbar verwandt ist. Es ist eine Musik, die Pharoah Sanders geformt und geprägt hat und die gerade in den vergangenen Jahren von einer neuen Generation wiederentdeckt wurde. Einer Generation, die in den Clubs großgeworden ist und für die "Promises" mit seinen Wurzeln in eben diesen Klangwelten den Einstieg erleichtert - ohne dabei Zugeständnisse zu machen.

Sun Ra holte Sanders von der Straße und gab ihm den Namen Pharoah

Das hat zwei Vorgeschichten. Die eine beginnt vor fünf Jahren: Pharoah Sanders sitzt mit jemand von Floating Points' Plattenfirma Luaka Bop im Auto. Shepherds Debütalbum "Elaenia" läuft. Sanders sagt, er würde die Person gerne kennenlernen, die das aufgenommen hat. Hört man sich das Album an, kann man nachvollziehen, warum. Als Floating Points hatte Shepherd zwar zunächst Singles und EPs produziert, die Clubs von London bis Ibiza in Verzückung versetzten. Aber auf seinem ersten Album fand er zu sich selbst, zu seiner Zeit auf der Chetham's School of Music daheim in Manchester. Zur Inspiration bei Debussy und Messiaen.

Auf "Elaenia" steht sein elektronisches Klangbild eher in der Tradition von Karl-Heinz Stockhausen als von Giorgio Moroder. Schon damals arbeitete er mit Streichern, aber auch mit Schlagzeugern wie Tom Skinner, der damals bei der wegweisenden Jazzgruppe Sons of Kemet spielte. Die Plattenfirma war begeistert und brachte die beiden zusammen. So begann die Zusammenarbeit an "Promises". Sanders' erstem richtigen Studioalbum seit fast zwei Jahrzehnten.

Die andere Vorgeschichte beginnt vor 55 Jahren in Rudy Van Gelders Tonstudio in Englewood Cliffs, New Jersey, jenem Vorort am Hudson River mit Blick auf die Skyline von Manhattan. John Coltrane hatte an diesem Tag zehn Musiker um sich versammelt. Zu den drei Tenorspielern gehörte neben Coltrane und Archie Shepp auch der damals 25-jährige Pharoah Sanders. Eigentlich hieß er ja Farrell. Der genialisch irre Bandleader Sun Ra hatte ihm den neuen Vornamen gegeben, nachdem er den zweitweise obdachlosen jungen Saxofonisten von der Straße geholt hatte. Bei Sun Ra fand Sanders schon die neue Freiheit, die ihm bei seinen Jobs in Rhythm-and-Blues-Bands so fehlte. Bei Coltranes Session aber fand er seine Bestimmung.

Das Album ist ein Schlüsselwerk des Modern Jazz, auch wenn es schwer zugänglich ist. ",Ascension' spiegelt eher ein Ereignis als eine Jazz-Platte wider und sollte entweder von erfahrenen Jazz-Liebhabern oder anderen aufgeschlossenen Hörern gesucht werden, aber nicht von ahnungslosen Zuschauern", beschreibt das Musikportal allmusic das höflich. Für die Musiker war es ein Erweckungsmoment.

Sie hätten gejubelt und sich in Ekstase umarmt, erzählte Marion Brown, der das Altsaxofon spielte, später. Was sie da in der rund vierzig Minuten lange Kollektivimprovisation fanden, war eine spirituelle Katharsis, die vor allem für Coltrane und Sanders der Beginn einer musikalischen Sinnsuche war, auf der Sanders Coltrane bis zu dessen Tod zwei Jahre später als Sparringspartner begleiten sollte.

"Promises" taugt nicht zum Teilhören, trägt aber auch über die gesamte Spieldauer

In den Jahren danach führte Sanders - zeitweise mit Coltranes Frau Alice an Klavier und Harfe - diese Suche weiter fort. Sein Album "Karma" (1969), mit dem zentralen Stück "The Creator Has A Masterplan", gilt als Meilenstein des Spiritual Jazz. Sanders experimentierte mit Tonsystemen aus Afrika und Asien, spielte mit Gnawa-Musikern und nahm sogar eine Platte mit respektablen Disco Beats auf.

Zwei sehr unterschiedliche Seiten ziehen sich also durch Sanders' Gesamtwerk. Auf der einen Seite ist da der oft brachiale, freie Improvisator, der mit Überblastechniken Coltranes "sheets of sound" an Wucht und Überwältigung noch übertrifft. Auf der anderen Seite ist da der lyrische Sanders, der diese musikalische Gewalt bis zu jener Behutsamkeit zügeln kann, die nun auch "Promises" bestimmt.

So eröffnet er das Werk ja auch. Zum zweiten Satz kommen die Streicher dazu. Verhalten, als Klanghorizont. Die Musiker in London mussten sich im Seuchensommer 2020 in George Martins Aufnahmestudio in großem Abstand platzieren, was dem Klangkörper eine hörbare Luftigkeit bringt. In den dritten Satz führt Floating Points behutsame Elektronik, im vierten singt und murmelt Pharoah Sanders die Linien, die er sonst spielen würde, sehr direkt ins Mikro. Damit sind die Klangbilder gesetzt, die sich wie in Dreifachspiralen durch die nächsten fünf Sätze bewegen. Genregrenzen lassen sie dabei weit hinter sich. Die Grenzen zwischen Improvisation und Komposition bleiben fließend.

Dringend empfohlen ist übrigens, sich das nicht auf einem der Digitaldienste, sondern auf CD oder Langspielplatte anzuhören, weil die nur künstlich aufgesetzten Übergänge zwischen den neun Sätzen zu Brüchen werden. "Promises" aber taugt nicht zum teil- oder zeitweise Hören. Es ist ein Gesamtwerk von einer guten Dreiviertelstunde, das keine einzige Länge, keine einzige Schwachstelle hat, aber einen nicht so sehr zwingt, sondern einfach dazu bringt, sich auch über die gesamte Spieldauer darauf einzulassen. Auch das ist für viele ein erst- und einmaliges Erlebnis.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5256369
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.