Süddeutsche Zeitung

Festival "Theater der Welt":Alles denkt

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Ein "European Song Contest" mit Philosophie-Texten, eine Klimaschutzoper mit Jugendlichen und eine persönliche Geschichtsreise nach Namibia: Eindrücke vom Festival "Theater der Welt" in Düsseldorf.

Von Martin Krumbholz

Als die liebenswürdige Moderatorin Anna Schudt mitteilte, es stünde 1:0 für Ungarn, nicht beim ersten Philosophischen Liederwettbewerb (da war Ungarn nicht vertreten), sondern beim Fußball, wirkte dies wie eine kalte Dusche. Sollte Ungarn nach dem Illuminationsverbot für die Münchner Arena das Spiel auch noch gewinnen, wäre das ein herber Schlag ins Kontor gewesen.

Der Schlag blieb aus. Was beim "European Philosophical Song Contest", einem der Höhepunkte des Festivals "Theater der Welt", im Düsseldorfer Schauspielhaus über die Showbühne ging, war ohnehin von einer ganz anderen, erfrischenden, weltoffenen Geisteshaltung - wie das Theaterfest überhaupt. Die Idee ist doch wunderbar: Ein Song Contest, der den üblichen Schlagerkitsch durch intelligente, elaborierte, zum Teil nachdenkliche, dann wieder eher humoristische Inhalte ersetzt; zehn beteiligte Länder von Slowenien bis Norwegen, eine vierköpfige sympathische, divers besetzte Jury, ein Publikum, das mit Füßen und Stimmbändern abstimmt.

Parodie? Ja, wenn man den Begriff von der Struktur her auffasst: Man übernimmt eine Form (den Gesangswettbewerb) und verpasst ihr einen völlig konträren Inhalt (Philosophie). Nicht, um sich darüber lustig zu machen; das wäre billig, was den Song Contest betrifft, und unangemessen gegenüber den vielleicht beiläufigen, aber doch spürbaren geistigen Anstrengungen, auf denen der Abend zuverlässig basiert. Die europäischen Philosophinnen und Intellektuellen, die Massimo Furlan und Claire de Ribaupierre vom Theater Vidy-Lausanne gebeten haben, sich über ein Thema ihrer Wahl Gedanken zu machen und diese in singbare Verse zu gießen, haben auf die Einladung mit durchweg originellen Texten reagiert. Vertont wurden sie von Angehörigen der Musikhochschule Vaud Wallis Fribourg. Das ist im Ergebnis nicht anstrengend ambitioniert, aber immer anregend und, in der oft mitreißenden, manchmal, was die Kostüme betrifft, fantastischen Darbietung, extrem unterhaltsam. Und, ja, wünscht man sich nicht genau das von einem Theaterabend, der sich, anders als ein schlechtes Fußballspiel oder eine Podiumsdiskussion, ins Gedächtnis einprägen soll?

Antike Denker haben Frauen, Tiere und Barbaren systematisch ausgegrenzt

Gleich am Anfang erinnerte der Slowene Mladen Dolar daran, dass antike Denker Frauen, Tiere und Barbaren systematisch ausgegrenzt haben, als sie damit begannen, das Fundament der abendländischen Philosophie zu legen. Der Franzose Philippe Artière schrieb ein nachdenkliches Chanson über Menschen, die "ein obskures Leben führen", die Outcasts dieser Welt. Die Italienerin Michela Marzano widmete sich der Zerbrechlichkeit des Menschen. Der junge Deutsche Leon Engler persiflierte charmant die zuschanden gegangenen Träume unser aller Jugend. Den Vogel aber schoss, jedenfalls aus Sicht der Jury, die hier die Höchstpunktzahl 40 vergab, der Portugiese José Bragança de Miranda ab, und zwar mit einem so eindringlichen wie sanften Plädoyer für die, philosophisch betrachtet, gleiche Wertigkeit nicht nur aller lebenden Geschöpfe, sondern selbst mineralischer Gestalten auf diesem Planeten: "Alles denkt" ist der Titel seines kleinen Werks.

In der Philosophie geht es, meistens jedenfalls, um Zwischentöne, Ambivalenzen, Respekt und Toleranz. Davon haben junge Menschen gelegentlich die Nase voll. "Ihr habt es verkackt", ist noch die gelindeste Form der Anklagen, die namentlich allen "vor 1965 geborenen" und als "Boomer" markierten Personen entgegengeschmettert werden, wenn es auf dem Gustaf-Gründgens-Platz vor dem Theater heißt: "Ist mein Mikro an?" Die (wohl rhetorische) Frage hat Greta Thunberg einst ans britische Parlament gerichtet; jetzt legt sie der kanadische Autor Jordan Tannahill seinen Zwölf- bis Sechzehnjährigen in den Mund, für die er eine Sprechoper über den Klimawandel verfasst hat, mitsamt den dazugehörigen Affekten und Ungerechtigkeiten. Die "Alten", die im Supermarkt ihr Kleingeld zählen, sich über den Preis der Tomaten beschweren und nicht ahnen, dass die noch viel zu billig sind: Ja, das sind hübsche Klischees, aber es geht hier eben nicht um eine kulinarische Verpackung fragiler Botschaften wie beim Philosophischen Liederwettbewerb, sondern um emotionale Dringlichkeit: Das Klima sei definitiv "ein Schwarz-Weiß-Thema", meinen die jungen Leute (bzw. ihr Librettist Tannahill) mit der Selbstgewissheit der Nachgeborenen.

"Pistes" ist ein Bericht über grauenhafte Ereignisse in Namibia, das 30 Jahre lang deutsche Kolonie war

Die französische Schauspielerin und Dramatikerin Penda Diouf, 1981 in Dijon geboren, hat senegalisch-ivorische Wurzeln. Ihr autofiktionaler Text "Pistes", Fährten oder Spuren, erzählt einerseits von Erfahrungen der Isolation, die sie als Kind in Südfrankreich machen musste. Als sie sich bei einem Verkleidungsakt unter dem Motto "Afrika" wie alle anderen schwarz schminken wollte, habe man ihr entgegengehalten: "Aber nein, du bist doch schon schwarz!" So fällt Penda Dioufs lakonischer Beitrag zum Thema "Blackfacing" aus. Andererseits ist "Pistes" aber auch ein ungeschminkter Bericht über grauenhafte Ereignisse in Namibia, das 30 Jahre lang als "Südwestafrika" deutsche Kolonie war. 2010 ist Diouf allein hingereist; eigentlich ging es ihr um den namibischen Sprinter Frankie Fredericks, der bei Olympia gegen seine "amerikanischen Brüder" antrat.

Doch was sie auf dieser Reise nicht zuletzt über deutsche Sitten und Gebräuche erfuhr, ist für die Nachkommen der Kolonisatoren eine wenig schmeichelhafte, aber notwendige Lektion; denn viel weiß man über diesen Teil deutscher Geschichte, etwa über die ersten Konzentrationslager, nicht. Ein bisschen schade nur, dass Penda Diouf ihren Monolog nicht selbst vortrug. So gekonnt die aus dem Tschad stammende Schauspielerin Nanyadji Ka-gara mit ihrem Rollkoffer auf leerer Bühne den bewegenden Text performte - es blieb sozusagen eine Sache aus zweiter Hand; die Autorin hätte die Prise Authentizität und Persönlichkeit beigetragen, die diesem Abend noch mehr Wucht und Gewicht verliehen hätte.

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